Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfter Jahrgang. 1889. (30)

Aebersicht der politischen Entwickelunzg des Jahres 1889. 355 
Auf dem Gebiet, wo äußere und innere Politik ineinander= Fal 
greifen, liegt ein Konflikt des deutschen Reiches mit der Schweiz. crnang. 
Seit vielen Jahren ist das letztere Land die Zuflucht der deutschen 
Sozialdemokraten, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, Ver- 
anlaffsung haben, ihr Vaterland zu meiden. Von hier aus betrei- 
ben sie nunmehr ihre Propaganda und hier wird ihr Hauptorgan, 
der „Sozialdemokrat“ gedruckt, um in Masse über die deutsche 
Grenze eingeschmuggelt zu werden. Um das gefährliche Thun und 
Treiben dieser Leute im Auge zu behalten, läßt die deutsche Polizei 
siei durch geheime Agenten beobachten; aber wie es mit solchen ge- 
heimen Agenten zu gehen pflegt, die sich aus den Reihen der So- 
zialdemokraten selbst rekrutieren, sie unterliegen bald der Beschuldi- 
gung, zu den Verbrechen, die sie verhüten sollen, selber zu provo- 
zieren. Während Deutschland die Schweiz beschuldigt, Konspiratio- 
nen gegen das deutsche Reich und offenbare Verbrechen auf ihrem 
Gebiet zu dulden, beschuldigt umgekehrt die Schweiz Deutschland, 
durch Lockspitzel Verschwörer= und Verbrechertum künstlich zu züch- 
ten. Hierauf gründeten einige Sozialdemokraten einen pfiffigen 
Plan. Ein sozialdemokratischer Schneider, namens Lutz, trat in 
Beziehung zu einem Polizei-Kommissär Wohlgemuth in Mühl- 
hausen und gab ihm im Einverständnis mit der Aargauer Polizei 
ein Stelldichein in Rheinfelden. Er hatte einen Brief von Wohl- 
gemuth in Händen, in dem die Wendung vorkam „Wühlen Sie 
nur tüchtig drauf los“, die als provokatorisch ausgelegt werden 
konnte. Kaum war Wohlgemuth in Rheinfelden angelangt, so 
wurde er verhaftet (21. April), zehn Tage im Gefängnis behalten 
und endlich, ebenso wie Lutz, aus der Schweiz ausgewiesen. Diese 
Behandlung eines deutschen Beamten nahmen nun doch die öffentliche 
Meinung in Deutschland und der Reichskanzler übel. Die offiziösen 
Blätter nahmen eine Sprache an, daß die Schweizer (worüber man 
in Deutschland nun doch lächelte) ernstlich in Besorgnis gerieten 
vor einer Kriegserklärung. Die Reichsregierung, unterstützt von 
der russischen und österreichischen (S. 97), hielt der Schweiz vor, 
daß die international garantierte Neutralität der Schweiz nicht 
bloß Rechte, sondern auch Pflichten in sich schließe, und wollte aus 
einer Bestimmung des deutsch-schweizerischen Niederlassungsvertrages 
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