Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfter Jahrgang. 1889. (30)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 1. Hälfte.) 27 
die Anklage gegen Gessken als völlig ungesetzlich hinzustellen sucht. Noch 
bedauerlicher als diese selbst seien die im Anschluß daran vom Reichskanzler 
veranlaßten Publikationen. Man müsse gegen diese notwendig den sog. 
Arnimparagraphen des Strafgesetzbuches in Anwendung bringen Abg. 
Windthorst verwirft besonders die teilweise Veröffentlichung der Privat- 
korrespondenz Gesskens nach dessen Freisprechung. Er schließt seine Rede mit 
der Bemerkung, man solle erwägen, „ob nicht wegen der Gesskenpublikationen 
noch eine Vorstellung an die allerhöchste Stelle zu richten sei.“ Nach kür- 
zeren Reden des Abg. Richter u. a. entgegnet Justizminister v. Schelling, 
man solle doch von deutschfreisinniger Seite nicht über eine Vergewaltigung 
des Reichsgerichts durch die Oeffentlichkeit sich beklagen. Noch ehe die Unter- 
suchung recht im Gange war, hätte die freisinnige Partei in ihren Blättern, 
in Broschüren und Parteiversammlungen einzuwirken versucht, in der Heim- 
lichkeit des Verfahrens eine Gefahr gesehen und die Unabhängigkeit des 
Reichsgerichts angezweifelt. Die Regierung habe erst nach Beendigung des 
Verfahrens sich an die Oeffentlichkeit gewandt und dann nur zum Zwecke, 
um die Ungparteilichkeit des Reichsgerichts vor allem Volk zu belegen. 
1. Hälfte Februar. (Die Nachfolge Bismarcks.) Die 
nationalliberalen „Hamb. Nachrichten“ erörtern in einem viel be- 
sprochenen Berliner Artikel „von besonderer Seite“ ausführlich die 
Frage, wer nach dem Hinscheiden des Reichskanzlers sein Nachfolger 
wird. In demselben heißt es: 
„Die Erwägungen, welche in den Kreisen der nationalliberalen Partei 
sowohl wie in deren Presse dazu geführt haben, daß es dort für richtig er- 
achtet wird, der Aktion des Kanzlers mit „Gewehr bei Fuß!“ ruhig zuzu- 
sehen, sollen nach vielfach verbreiteten Angaben darin gipfeln, daß, weil 
man die wahren Gründe des Kanzlers für sein letztes Vorgehen nicht kenne, 
es nötig sei, ihn seine Sache allein ausfechten zu lassen, um der Gefahr zu 
entgehen, später etwaige Nackenschläge für blindlings gewährte Unterstützung 
zu erhalten. Letztere Besorgnis gründet sich wohl nicht so sehr auf die 
Möglichkeit einer empfindlichen Reaktion der Wähler, als vielmehr auf den 
Wunsch, das zukünftige Prestige der Partei nicht zu gefährden. Man sagt 
sich, der Kanzler, welcher bei seinem letzten Auftreten im Reichstage ge- 
legentkich der Beratung der ostafrikanischen Vorlage den Eindruck gemacht 
habe, daß er im Begriff stehe, dem Greisenalter seinen Tribut zu zollen, 
könne dem Vaterlande doch einmal recht schnell entrissen werden; in diesem 
Falle aber stünde eine Partei, die sich ganz mit ihm identifiziert habe, vis- 
à-vis de rien. Was dann geschehen werde, wisse man nicht; schwerlich 
dürfte es zu einer unveränderten Fortsetzung der Politik Bismarcks kommen; 
wenn auch sicher anzunehmen sei, daß Graf Herbert Staatssekretär des Aus- 
wärtigen bleibe, so sei doch kein Zweifel, daß er nicht der leitende Staats- 
mann in dem Sinne sein werde, wie dies sein großer Vater jetzt sei, viel- 
mehr stehe anzunehmen, daß irgend ein anderer Programmmann, heiße er 
Graf Waldersee oder sonstwie, als Nachfolger des Fürsten Bismarck in Be- 
tracht komme.“ 
„Wir wollen die Peinlichkeit, welche dergleichen Erörterungen bei 
Lebzeiten des Kanzlers anhaftet, bei seite lassen und uns nur an die Sache 
selbst halten. Bevor wir dies aber thun, seien einige Bemerkungen einge- 
schaltet, die sehr zeitgemäß befunden werden dürften. Allerdings steht der 
Kanzler im 74. Lebensjahre, und es ist nicht zu leugnen, daß ihn, der jeder- 
zeit mit Anspannung aller seiner Kräfte im Dienste des Herrscherhauses und 
des Vaterlandes sich aufgerieben hat und der dies auch ferner thun wird,
	        
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