Das Ventssche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dez. 15.—16.) 209
machen! Und wenn die Frage so gestellt wird, so können wir nicht anders,
als antworten: wir dürfen uns nicht schon im Frieden zu Grund richten,
es würde uns das für den Krieg nichts helfen; wir wollen, können und
dürfen uns, wie schon vor Jahren der Herr Abgeordnete Dr. Reichensperger
(Olpe) von dieser Tribüne herab es ausgesprochen hat, nicht zu einer „Armee
von Bettlern“ machen. Das ist freilich eine Rede, die man nicht gern hört;
es ist — ich wiederhole das — uns auch nicht leicht geworden, zu diesem
Schluß zu kommen. Wer moöchte gern und leichten Herzens zugestehen, daß
das Volk an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit angekommen sei! Indessen,
nach allem dem, was wir an jedem Tage hören, was wir mit offenen
Augen sehen, nach der gewissenhaftesten Prüfung müssen wir uns davon
überzeugen: diese Rüstung würde die Kraft des deutschen Volkes auf die
Dauer ganz sicher übersteigen.
Ueber den Dreibund erklärt der Redner:
Weit entfernt, den Dreibund irgendwie schädigen zu wollen, sind
wir unsererseits der festen Ueberzeugung, daß die Wiederherstellung von
Recht und Gerechtigkeit auf dem bezeichneten Gebiete, die Herstellung einer
territorialen Unabhängigkeit des päpstlichen Stuhles, nur zur größeren
Sicherung eines hervorragend wichtigen Gliedes dieses Bundes und damit
des ganzen Dreibundes gedeihen würde. (Lebhafter Beifall im Zentrum.)
Ich darf dieser Erklärung übrigens, um jeden Zweifel zu zerstreuen,
noch hinzufügen, daß niemand von uns daran denkt, die territoriale Un-
abhängigkeit des römischen Stuhles unter Gefährdung des Dreibundes zu
wollen. (Bravol im Zentrum.) Darüber werden Sie alle deutschen Katho-
liken völlig einträchtig finden.
Abg. Osann (nat.-lib.) gibt die Hoffnung noch nicht auf,
daß man zu einer Verständigung über die Vorlage gelangen werde.
Sie wird an eine Kommission von 28 Mitgliedern verwiesen.
Der Abg. Liebermann v. Sonnenberg bringt einen Antrag
ein auf Einstellung des Strafverfahrens gegen den Abgeordneten
Ahlwardt. Die Abstimmung bleibt zweifelhaft und es findet
daher Auszählung statt. Der Antrag auf Ueberweisung an die
Geschäftsordnungskommission wird mit 114 gegen 100 Stimmen
abgelehnt. Dafür stimmen die Rechte, der größte Teil der Frei-
sinnigen und die Nationalliberalen. Der Antrag Liebermann
v. Sonnenberg wird darauf angenommen.
15. Dezember. Reichstags-Ersatzwahl in Stuhm-Marien-
werder. Die Deutschen haben drei Kandidaten, einen Deutsch-Kon-
servativen, Frei-Konservativen und Freifinnigen aufgestellt; infolge-
dessen wird in der Stichwahl an Stelle des bisherigen deutschen,
frei-konservativen Vertreters Wessel der Pole Donimirski mit 1090
Stimmen Majorität gewählt.
16. Dezember. (Stuttgart.) Wahl von 14 Mitgliedern zum
Bürgerausschuß. Die vereinigte konservative und deutsche Partei
erlangen 8 Sitze, die Volkspartei 4, die Sozialdemokraten 2.
Europ. Geschichtskalender. Bd. XXxI. 14