Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

288 Rußland. (August Ende.) 
Ende August. Auf der Messe zu Nischni-Nowgorod hält der 
Vorsitzende des Messekomitees eine Ansprache an den Finanzminister 
Witte, in welcher er der Dankbarkeit der Kaufmannschaft für die 
Sorge Ausdruck leiht, welche der Finanzminister den Interessen des 
russischen Handels und der russischen Industrie entgegenbringe. Der 
Vorsitzende führt aus, die Haltung des Finanzministers bei den 
Handelsvertragsverhandlungen mit Deutschland entspreche völlig 
den gegenwärtigen wirtschaftlichen Bedürfnissen Rußlands. Herr 
Witte erwidert ungefähr folgendes: 
„Es ist mir sehr angenehm, die von Ihnen zum Ausdruck gebrachten 
Gefühle der auf der altrussischen Nischni-Nowgoroder Messe versammelten 
Kanfmannschaft über die jetzt von uns durchlebten Ereignisse, welche unsern 
Handelsverkehr mit Deutschland betreffen, zu vernehmen. Die Umstände, 
die den jetzigen Zustand hervorgerufen haben, find allgemein bekannt. Wir 
haben aufrichtig gewünscht, das zu vermeiden, was eingetreten ist; wir haben 
unsererseits ebenso den Wunsch ausgedrückt, zu versuchen, ein Ende für die 
beide Teile schädigende Lage zu finden. 
Aber der heiße Wunsch, daß die Verhandlungen ruhig verlaufen, 
kann uns nicht der Pflicht entheben, an die Zukunft zu denken. Es wäre 
mehr als leichtsinnig, wollten wir zur Erzielung der Beruhigung der Gegen- 
wart Verpflichtungen auf uns nehmen, welche die Industrie Rußlands er- 
schüttern könnten. Wir verlangen von Deutschland keine Opfer. Der 
Wunsch Rußlands geht einzig dahin, daß der deutsche Nachbar, mit dem 
Rußland durch langjährige freundschaftliche Beziehungen verbunden ist, den 
russischen Import ebenso behandelt wie den Import aller anderen Länder 
der Welt. Wir verlangen von Deutschland keine Tarifherabsetzungen, welche 
es nicht schon der ganzen Welt gewährt hat, wenn Deutschland volle Gleich- 
stellung Rußlands mit anderen Ländern nur durch eine Erhöhung seines 
Tarifes erreichen kann, so nehmen wir auch eine solche Entscheidung an. 
Dadurch, daß Deutschland Rußland mit allen übrigen Reichen gleichstellt, 
kann es seinem wirtschaftlichen Leben keinerlei Schädigung zufügen, denn 
für Deutschland ist es völlig gleichgiltig, ob die für dasselbe nötigen Pro- 
dukte aus Rußland oder aus irgend einem anderen Lande eingeführt werden. 
Die Forderung Deutschlands trägt einen völlig anderen Charakter. 
Rußland hat bis in die letzte Zeit, trotz des Fehlens eines Handelsvertrags, 
gegen Deutschland niemals schwerere Zollsätze angewandt als gegen die 
anderen Länder. Rußland hatte den gleichen Tarif für alle. Die deutsche 
Regierung forderte eine Herabsetzung dieses einen für alle gleichen Tarifes. 
Und so wünschen wir nur das Eine, daß Deutschland uns ebenso behandelt 
wie alle andern Staaten. Die deutsche Regierung begnügt sich hiermit 
nicht, sie fordert außerdem noch entschieden die Herabsetzung unseres Tarifs, 
der ausschließlich den innern Bedürfnissen Nußlands gemäß aufgestellt ist. 
Solche Forderungen führen die Frage über die gegenseitigen Zollbeziehungen 
auf den Weg des Handelns, auf den Weg der Willkür, der, wie das Ge- 
schehene zeigt, sehr schlüpfrig ist. Außer dem Prinzip, daß jeder Staat 
seinen Zolltarif den eigenen Bedürfnissen entsprechend frei aufstellt und sich 
nur verpflichtet, denselben in gleicher Weise auf alle befreundeten Länder 
anzuwenden, existieren keine anderen festen Grundlagen für Zolltarife als 
Normen gerechter internationaler Beziehungen. Die Abweichung von diesem 
Prinzip kann Antagonismus erregen und eine Reihe von unerwarteten Er-
	        
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