Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 3.) 41 
formierten Staatsbürger in Anspruch nehmen — daß jeder Mensch es vor- 
ziehen würde, Ausgaben zu machen, sei es für Schulzwecke, für Kunst, für 
Wissenschaft, für Landesmeliorationen. Alles das ist nützlicher, angenehmer 
auszugeben wie Militärausgaben. Das alles sind banale Wahrheiten. 
Aber wo sitzt nun in dieser Vorlage der Militarismus? Ich vermag das 
nicht zu erkennen. Die Vorlage ist, wenn man einmal zugibt, daß die 
Regierungen die richtige Ansicht über unsere politische und militärische Lage 
gewonnen haben, auf das Mindestmaß zugeschnitten, sie enthält sich jedes 
Luxus, es ist keine vermeidliche Ausgabe in ihr. Wo ist da der Militaris- 
mus? Ich bin bei allem Bemühen, diesen Einwand zu verstehen, nicht im 
stande gewesen, die Gründe dafür aufzufinden. Ich glaube im Gegenteil, 
daß man für das Dasein der Armee, wenn man sich so auf den allgemeinen 
Standpunkt stellt, noch manches gute Motiv finden kann; man kann an der 
deutschen Armee manche gute Seite erkennen, und ich glaube nicht, daß ich 
zu weit gehe, wenn ich sage, daß in der Angliederung der neuen Provinzen 
an den preußischen Staat vom Jahre 1815 an, im Zusammenschweißen des 
Deutschen Reichs die Armee einer der wesentlichsten Faktoren, ein hauptsäch- 
licher Kitt gewesen ist. (Sehr wahr!) 
Das sind geschichtliche Thatsachen, die man nicht abstreiten kann und 
die ungleich gewichtiger find als die mehr oder weniger vage Aeußerung 
über den Militarismus. 
Endlich führt man uns, — unzweifelhaft war das für einen großen 
Teil der Herren das Gewichtigste, — die Volksstimmung entgegen. Ja 
gewiß, es ist Verstimmung in vielen Landesteilen da, man wünscht manches 
anders. Aber ich will die Frage hier nicht erörtern: wieweit sind die ver- 
bündeten Regierungen in der Lage, das zu ändern; wieweit ist diese Ver- 
stimmung vielmehr eine Folge unserer ganzen modernen Geistesrichtung, des 
Materialismus, des Pessimismus, des Unbehagens am Dasein? (sehr richtig! 
rechts) des immerwährenden Kampfes ums Dasein, der weder Befriedigung 
aufkommen läßt, noch auch den Grad der Selbstverleugnung, der es dem 
Menschen möglich macht, mit geringeren Mitteln zufrieden zu leben. 
Also das Dasein der Verstimmung gebe ich Ihnen ohne weiteres zu; 
ich gebe auch zu, daß die Verstimmung zunehmen kann, wenn es nicht ge- 
lingt, der Nation klar zu machen, daß die erhöhten Ausgaben, die von ihr 
gefordert werden, notwendig sind. 
Nun hat man gesagt: Ja, wie kann eine einsichtige Regierung zu 
einer Zeit, wo solche Verstimmungen herrschen, mit einer solchen Vorlage 
kommen? Erstens, meine Herren, können wir nicht wissen, wann es not- 
wendig sein wird, die Probe auf das Exempel zu machen und diese Vor- 
lage zur Verwendung vor dem Feinde zu bringen. Dann aber auch, sollen 
wir vielleicht so lange warten, bis das Verlangen nach der Militärvorlage 
aus den Wahlkreisen kommt? (Heiterkeit rechts. Zuruf links.) Gewiß 
nicht. Und glauben Sie etwa, daß die Verstimmung, die im Lande ist, 
ich heben würde, wenn wir die Franzosen im Lande hätten? Ganz ge- 
wiß nicht. 
Wenn ich also auch zugebe, daß die Stimmung im Lande zu wünschen 
übrig läßt, so bin ich nicht im stande, darin ein Motiv zu finden, was 
uns hätte veranlassen können, von der Vorlage Abstand zu nehmen. Wenn 
man einmal auf die Stimmungen Rücksicht nimmt, dann liegt es mir sehr 
nahe, auch auf die Stimmung Rücksicht zu nehmen, die im Lande sein 
wird am ersten Mobilmachungstage der Zukunft, und ich bin der Meinung 
daß dann die Stimmung ein ungleich größeres Gewicht hat als heute. 
Dann brauchen wir, wie ich schon öfters ausgesprochen habe, die herzliche 
Teilnahme, das entschlossene Eintreten der ganzen Nation. Wenn wir heute
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.