50 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 4.—5.)
die Hälfte der jetzigen ermäßigen, aber die Zahl der Streiter vermehren.
Die Reformatoren der preußischen Armee, die Scharnhorst, Gneisenau 2c.
standen dem Gedanken der Miliz nicht so fern; sie wurden damals als
Jakobiner verdammt; heute würde man sie als Sozialdemokraten bezeichnen.
Redner verweist auf die Schweiz, welche durch die Einführung des Miliz-
systems im stande sei, prozentual eine verhältnismäßig größere Kriegsarmee
aufzustellen als Deutschland.
4. Mai. Nachdem v. Huene, Graf Ballestrem und Dr. Porsch
aus dem Vorstande der Zentrumsfraktion ausgeschieden sind,
wählt die Fraktion den Grafen Hompesch an Stelle des Grafen
Ballestrem zu ihrem Vorsitzenden.
Dr. Porsch erklärt später, der Austritt des Herrn Abg. Lieber (Zentr.)
sei freiwillig erfolgt, um einem unfreiwilligen vorzubeugen.
5. Mai. (Reichstag.) Fortsetzung. v. Manteuffel (kons.)
spricht für die Vorlage.
Der Reichskanzler hat eine Aeußerung von mir auf Grund eines
Zeitungsberichts verlesen und dieselbe dahin ausgelegt: „Es ist mir ganz
egal, ob die Russen in Berlin und die Franzosen in München stehen, wenn
nur die Zentrumspartei noch existiert. Ich will dem Redner nicht zu nahe
treten; vielleicht wird er aber später in der Lage sein, mir den Kern von
Patriotismus, der in dieser Aeußerung etwa liegen könnte, herauszuschälen;
mir ist es nicht möglich gewesen, ihn zu finden.“ Die Mehrzahl der Be-
richte, welche über diese von mir gehaltene Rede durch die Presse gegangen
sind, war in einer unerhörten und unglaublichen Weise entstellt worden.
Ich sage das nicht von dem Berichte, den der Reichskanzler verlesen hat,
aber von diesem Berichte kann ich feststellen, daß er mir bis heute Morgen
noch nicht zu Gesicht gekommen ist, weder vor dem Druck, noch nachher.
Was den angefochtenen Satz angeht, so hat derselbe so gelautet: „Selbst
wenn alle Forderungen der verbündeten Regierungen in dieser Militär-
vorlage politisch und militärisch berechtigter und voller begründet wären,
so ist meiner Meinung nach der Fortbestand einer Partei wie das Zentrum,
so wie es jetzt ist, für das Deutsche Reich immer noch wichtiger als die Be-
rechtigung der Militärvorlage!“ (Großes Gelächter rechts!) Wenn die
Regierung ihre Vorlage auch besser begründet hätte, so hielte ich das Be-
stehen einer Partei wie das Zentrum doch noch für wichtiger, als gerade
diese Militärvorlage. (Lachen rechts.) Das Bestehen dieser Partei liegt im
Interesse der Partei allein, sondern auch im wohlverstandenen Interesse des
Reiches. Wir vertreten seit mehr als 20 Jahren im Reichsinteresse den
Förderalismus; wir treten entgegen allen zentralistischen und cäsaristischen
Tendenzen und glauben, daß dies der beste und einzige Hort der Monarchie
in Deutschland ist. (Zustimmung im Zentrum.) Wir vertreten ferner eine
gesunde Sozialpolitik, die das Reich stärken soll, denn wenn wir innerlich
zusammenbrechen, haben wir auch außen weder Geltung noch Kraft. (Zu-
stimmung im Zentrum.) Diese unsere Bestrebungen wurzeln in dem Boden
des positiven Christentums und der Gerechtigkeit, der letzten und einzigen
Grundlage der Reiche. Die Uebersetzung meiner Aeußerung ins Deutsche,
welche der Reichskanzler mit den vorhin erwähnten Worten gegeben hat,
ist, um einen Ausdruck von ihm zu gebrauchen, eine wahrhafte akrobatische
Musterleistung. Wie kann er das eine Uebersetzung ins Deutsche nennen!
Das ist das schlechteste Bismarckisch, das ich jemals gehört habe. (Wider-
spruch rechts, Zustimmung links und im Zentrum.) Es handelte sich wohl