Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

Das Veusche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juli 4.) 79 
„Aber wie wollen Sie zu dieser regierenden Regierung gelangen? Wie soll 
sie sein:? Wer soll sie bilden?" fragte der englische Besucher. „Es hat sich 
neuestens die Meinung gebildet" — antwortete Bismarck — „daß die Welt 
von Unten aus regiert werden kann. Das kann aber nicht sein.“ 
4. Juli. Der Kaiser eröffnet den Reichstag mit folgender 
Thronrede: 
Geehrte Herren! 
Nachdem Sie zu gemeinsamer Arbeit mit den verbündeten Regie- 
rungen berufen worden sind, ist es Mir Bedürfnis, Sie beim Eintritt in 
Ihre Beratungen zu begrüßen und willkommen zu heißen. 
Der dem vorigen Reichstag vorgelegte Entwurf eines Gesetzes über 
die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres, durch welchen eine stärkere 
Ausnutzung unserer Wehrkraft ermöglicht werden sollte, hat zu Meinem 
Bedauern die Zustimmung der Volksvertretung nicht gefunden. Die von 
Meinen hohen Verbündeten einmütig geteilte Ueberzeugung, daß das Reich 
gegenüber der Entwickelung der militärischen Einrichtungen anderer Mächte 
auf eine seine Sicherheit und seine Zukunft verbürgende Fortbildung un- 
seres Heerwesens nicht länger verzichten dürfe, mußte zu dem Entschlusse 
führen, den Reichstag aufzulösen und durch die Anordnung von Neuwahlen 
das für notwendig erkannte Ziel zu verfolgen. 
Seit der Vorlage jenes Gesetzentwurfs hat die politische Lage Eu- 
ropas keine Aenderung erfahren. Die Beziehungen des Reichs zu den aus- 
wärtigen Staaten sind zu Meiner großen Befriedigung nach wie vor durch- 
aus freundlich und frei von jeder Trübung. Das Verhältnis der organt- 
sierten militärischen Kraft Deutschlands zu derjenigen unserer Nachbarn hat 
sich indessen noch ungünstiger gestaltet, als im verflossenen Jahr. Wenn 
schon seine geographische Lage und seine geschichtliche Entwickelung Deutsch- 
land die Pflicht auferlegt, auf den Bestand eines verhältnismäßig großen 
Heeres Bedacht zu nehmen, so wird die weitere Ausbildung unserer Wehr- 
kraft mit Rücksicht auf die Fortschritte des Auslandes zu einer zwingenden 
Notwendigkeit. Um den Mir verfassungsmäßig obliegenden Pflichten ge- 
nügen zu können, erachte Ich unumgänglich, daß mit allen zu Gebote 
stehenden Mitteln auf die Herstellung einer ausreichenden und wirksamen 
Verteidigung der vaterländischen Erde hingewirkt wird. 
Es wird Ihnen deshalb unverzüglich ein neuer Gesetzentwurf über 
die Friedenspräsenzstärke des Heeres vorgelegt werden. Darin sind die bei 
der Beratung des früheren Entwurfs laut gewordenen Wünsche, soweit dies 
angänglich erschien, berücksichtigt und demgemäß die Anforderungen an die 
persönliche Leistungsfähigkeit und an die Steuerkraft des Volkes, soweit dies 
ohne Gefährdung des Zwecks geschehen konnte, herabgemindert. 
Das Interesse des Reichs erheischt es, zumal im Hinblick auf den 
im nächsten Frühjahr bevorstehenden Ablauf des Septennats, daß der Gesetz- 
entwurf mit thunlichster Beschleunigung verabschiedet wird, damit die dies- 
jährige Rekruteneinstellung schon auf der neuen Grundlage vorgenommen 
werden kann. Eine Versäumnis des Termins dieser Einstellung würde sich 
auf mehr als zwei Jahrzehnte zum Nachteil unserer Wehrkraft fühlbar 
machen. Um es Ihnen zu ermöglichen, Ihre Arbeitskraft ungeteilt der Be- 
ratung der Vorlage zuzuwenden, werden die verbündeten Regierungen da- 
von absehen, die Session mit anderen umfassenden Vorlagen zu beschweren. 
Wenngleich bei Mir und bei Meinen hohen Verbündeten die Ueber- 
zeugung fortbesteht, daß die durch die Neugestaltung unserer Heereseinrich- 
tungen bedingten Mittel zweckmäßig und ohne Ueberlastung auf dem Wege 
beschafft werden können, welcher in den im verflossenen Herbst vorgelegten
	        
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