Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwölfter Jahrgang. 1896. (37)

Die Gesterreichisch-Augarische Monarchie. (Juni 9.) 163 
Einigkeit unter den drei Aktionsmächten notwendig gewesen wäre, trat eine 
Spaltung über die Mittel ein, die angewendet werden sollten, und die 
Gegensätze hatten sich so weit zugespitzt, daß die Gefahr eines einseitigen 
Eingreifens und somit das Aufrollen der ganzen orientalischen Frage immer 
drohender wurde. In der Erkenntnis dieser Gefahr gab aber das öster- 
reichisch-ungarische Kabinet seine bisherige Zurückhaltung auf. Seiner 
Stellungnahme, sowie der Friedensliebe der anderen Mächte ist es zuzu- 
schreiben, daß die Frage ihren akuten Charakter verlor. Sämtliche Mächte 
nahmen das Prinzip der offenen Aussprache und der dadurch zu erzielenden 
Einmütigkeit an. Seit diesem Augenblicke trachteten die Mächte nunmehr 
auf dem einmal betretenen Terrain zu verbleiben und sich gegenseitig zu 
überwachen, damit keine dem Prinzipe der Einmütigkeit und der Art eines 
solidarischen Vorgehens untreu werde. Wir dienten dem Interesse des 
Friedens, als wir gleichzeitig den festen Entschluß bekundeten, den status 
quo auf der Balkanhalbinsel aufrechtzuerhalten. Andererseits glauben wir 
den Dank und die Erkenntlichkeit der Türkei beanspruchen zu können; möge 
diese Erkenntlichkeit darin bethätigt werden, daß die Türkei sich um die 
Herbeiführung erträglicher Zustände ihrer Provinzen aufrichtig bemühe 
und Vorkehrungen treffe, welche das Vertrauen Europas in ihre Lebens- 
fähigkeit rechtfertigen können, sonst werden ihre besten Freunde, zu welchen 
auch wir gehören, sie vor dem schließlichen Niedergange nicht behüten 
önnen.“ 
Der Minister ging sodann auf die Besprechung des Verhältnisses 
zu den verschiedenen Mächten über und hob in erster Linie die Intimität, 
das gegenseitige Vertrauen und die enge Verständigung mit Deutschland 
hervor. Dieses Verhältnis sei beinahe zur zweiten Natur der beiden Länder 
geworden. Der Minister trat sodann Jenen entgegen, welche ein Symptom 
der Abschwächung dieses Verhältnisses erblicken, und fuhr fort: „Unser 
Verhältnis zu Deutschland ist fester denn je. Wir empfinden gegenseitig 
das Bedürfnis, hinsichtlich aller das internationale Gebiet tangierenden Fragen 
in steter Fühlung zu bleiben, und infolge der Uebereinstimmung mit dem 
deutschen Kabinet trachten wir, den Aufgaben gerecht zu werden, die sich 
der Dreibund vorgezeichnet hat.“ Mit Jenen, welche eine andere Gruppie- 
rung befürworten, wolle er nicht darüber streiten, ob die gegenwärtige 
Kombination, der wir angehören, besser oder schlechter sei, als die von 
ihnen erdachte. „Eines weiß ich aber sicher"“, sagte der Minister, „daß sich 
die Gruppe des Dreibundes vortrefflich bewährte, und wir sind bescheiden 
genug, uns mit Vortrefflichem zu begnügen. Ebenso intim und vertrauens- 
voll ist unser Verhältnis mit Italien.“ 
Nachdem sodann der Minister den tiefempfundenen Anteil und die 
aufrichtigsten Sympathien für die italienischen Soldaten in Afrika ausge- 
drückt hatte, fuhr er fort: „In erfreulicher Weise gestalten sich auch unsere 
Beziehungen zu Rußland. Rußland hat so kategorisch die Erhaltung des 
status quo und das unverbrüchliche Festhalten an den bestehenden Ver- 
trägen als das Ziel seiner Politik bezeichnet, daß wir keinen Grund haben, 
seiner Politik zu mißtrauen.“ Redner weist diesbezüglich auf die Stellung- 
nahme Rußlands in einer der letzten Phasen der orientalischen Krisis hin. 
Als nämlich die revolutionäre Bewegung in Konstantinopel einen immer 
gefahrdrohenderen Charakter gewann, entstand die Frage, ob Europa dem 
Sultan zur Wiederherstellung der Ordnung verhelfen sollte, was mittels 
einer genau umschriebenen Aktion sämtlicher Mächte, unter Aufhebung ge- 
wisser Bestimmungen des Pariser Vertrages für eine möglichst kurze Zeit, 
durchführbar gewesen wäre. Rußland erklärte damals, es hege die größten 
Bedenken gegen diese Weise des Vorgehens als ein gefährliches Präzedens 
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