Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwölfter Jahrgang. 1896. (37)

238 Italien. (Mai 8.) 
8. Mai. (Deputiertenkammer.) Erklärungen der Mi— 
nister über die auswärtige und Kolonialpolitik. 
Der Minister des Auswärtigen, Herzog v. Sermoneta, erwidert 
auf eine Rede Sonninos, der die Veröffentlichung der Grünbücher getadelt 
hatte: Die veröffentlichten Schriftstücke haben nichts bloßgestellt; sie haben 
nur die treue Freundschaft einer Großmacht gegenüber Italien und die 
Absicht des letzten Kabinets, immer neue Ausbreitungen zu unternehmen, 
bewiesen. Man kann gewiß nicht daran denken, die Kolonien aufzugeben, 
weil die Räumung Massauahs im jetzigen Augenblicke keine geringere Leicht- 
fertigkeit wäre als jene, die wir an dem Tage begingen, an welchem wir 
es besetzten. Trotz der unglücklicherweise für die Kolonien zu befürchtenden 
Plackereien durch böse Nachbarn wird die Regierung mit diplomatischer 
Klugheit die Gefahr jeglichen Streites vermeiden können. Sobald wir 
wußten, daß England zum Schutze Egyptens und um uns zu Hilfe zu 
kommen, eine Expedition gegen den obern Nil unternahm, zeigte sich die 
Notwendigkeit, Kassala zu halten, dessen Räumung General Baldissera aus 
militärischen Rücksichten vorgeschlagen hatte. Man darf sich indessen nicht 
verhehlen, daß der Besitz dieses Platzes bedeutende Kosten verursachen wird, 
weil der Feldzug Englands, so gewiß auch sein Ausgang sein mag, lang- 
wierig und schwierig sein wird. Wir müssen die Frage bezüglich Kassalas 
in rein italienischem Interesse lösen, ohne jedoch die freundschaftlichen Be- 
ziehungen, die uns seit langer Zeit mit England verbinden, zu vergessen. 
Während der fünf Jahre, die seit dem Vertrage von Utschalli verflossen 
sind, ist Abessyniens Macht ein militärischer Faktor geworden. Es ist 
natürlich, daß dieses Reich an der Grenze unserer Kolonie immer miß- 
trauisch bleibt und uns voraussichtlich an einem Tag anfallen wird, an 
dem wir in einen europäischen Krieg verwickelt sind. So könnte der Tag 
kommen, an dem Abessynien ein gewichtiges Wort in einem europäischen 
Kriege zu sprechen hätte. Trotzdem ist es unsere Pflicht, eine Politik der 
Sammlung zu verfolgen. 
Ueber Erythräa erklärt der Kriegsminister Ricotti: Zu einem 
Vernichtungskriege gegen Menelik würde man 2 Jahre hindurch 150000 
Mann an Truppen und eine Milliarde an Geld bedürfen, und dann wäre 
immer der Erfolg noch nicht gewiß. Wenn man mit der Eroberung Abes- 
syniens schrittweise vorgehe, so würden dazu fünf Jahre und 1½ Milliarde 
nötig sein. Der Minister wendet sich auch gegen diejenigen, die eine neue 
Grenze in der Linie Adigrat-Adua befürworten, und hält diese Linie für 
weniger stark als die Linie Mareb-Belesa. Die Friedensverhandlungen 
seien abgebrochen worden, weil Menelik übertriebene Ansprüche gestellt 
habe. Die Regierung werde alle Anstrengungen machen, um die Freilassung 
der Gefangenen zu erreichen. Das Ministerium beabsichtige, weder jetzt noch 
in Zukunft Erythräg aufzugeben: es beabsichtige, die Linie Mareb-Belesa 
als Grenze anzunehmen. Aus der Annahme dieser Grenze würde sich viel- 
leicht eine Zeit der Waffenruhe und ein modus vivendi mit Abessynien 
ergeben. Außer Asmara müsse auch Senafe befestigt und eine gesicherte 
Verbindung zwischen diesen beiden Orten und Massauah hergestellt werden. 
Auf diese Weise würde man jeden Angriff zurückweisen können. Die fest- 
gesetzte Summe von 150 Millionen werde ausreichen, denn man werde als- 
bald mit der Rückberufung der weißen Truppen den Anfang machen können. 
Der Minister erklärt, die Regierung habe Baldissera die Weisungen des 
früheren Kabinets, daß er geeignetenfalls Adigrat räumen könne, erneuert. 
— Am folgenden Tage nimmt die Kammer mit 278 gegen 133 Stimmen 
von den Erklärungen der Regierung Kenntnis.
	        
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