174 Die Gesterreichisc-Angerische Menarchie. (Okt.—Nov. 16.)
bis auf eins. Bei den Wahlen kommt es wiederholt zu Unruhen, so daß
große Militärkommandos in die gefährdeten Ortschaften abgesendet werden
müssen. Trotzdem kommt es häufig zu blutigen Zusammenstößen. Das
„Deutsche Wochenblatt“ charakterisiert den Wahlkampf folgendermaßen:
„Es war ein aufregender, leidenschaftlich erbitterter Kampf, welcher in dem
Monate Oktober vor und bei den Wahlen von sämtlichen Parteien geführt
wurde und zwar in häufigen Fällen mit bedenklichen, ja mit geradezu ver-
derblichen und strafbaren Mitteln. Die ungeheuerlichsten Wahlmißbräuche
sind in Ungarn ein von Alters her eingewurzeltes Erbübel: Umtriebe aller
Art, Bestechungen, Intriguen, lügnerische Vorspiegelungen und Versprechun-
gen, Mißbrauch der Amtsgewalt, brutale Gewaltthätigkeit, thätliche An-
griffe auf Leben und Eigentum der Wähler, Rechtskränkungen der ver-
schiedensten Art u. dgl. sind hierbei in der Uebung. Der Seelenkauf und
der Stimmenschacher werden offen betrieben, die Wahlbestechung ist kein
Vergehen, keine Schande; Treu und Glauben schwinden, jedwede Hinterlist
gilt bei Wahlagitationen als erlaubt und nicht selten versucht man die
Ueberredung durch das Argument der Fäuste, des Prügels, der Steine und
des Revolvers zu ersetzen."“
Die Volkspartei beabsichtigte die Entsendung einer Monstredeputation
zum Kaiser, um wegen angeblicher Wahlmißbräuche Beschwerde zu führen.
Der Kaiser sagt den Empfang dieser Deputation ab. (Ende Nov.)
Oktober. November. Bei den Wahlen für den nieder-
österreichischen Landtag erringen die Antisemiten auf Kosten der
Liberalen große Erfolge. Ferner tritt zum erstenmal eine bürger-
liche Partei radikaler sozialer Richtung auf, die sogen. Sozial-
politiker, die drei Mandate gewinnen.
5. November. (Wien.) Vermählung der Erzherzogin Maria
Dorothea mit dem Prinzen Ludwig Philipp von Orleans.
November. (Wien.) Spaltung in der deutsch-liberalen
Partei.
Am 9. November erklären die deutsch-böhmischen Abgeordneten und
2 deutsch-mährische ihren Austritt aus der „Vereinigten deutschen Linken“.
Der Grund ist, daß sie eine scharfe Opposition gegen das Ministerium
Badeni in nationalen und freiheitlichen Fragen betreiben wollen und die
Ablehnung des Dispositionsfonds als Mißtrauensvotum gegen Badeni ver-
langen, was die Majorität der Partei ablehnt.
16. November. (Wien.) Abgeordnetenhaus. Debatte über
das Handelsbündnis mit Ungarn.
Abg. Lueger stellt den Dringlichkeitsantrag auf sofortige Kündigung
des Zoll= und Handelsbündnisses mit Ungarn. Begründet wird der Antrag
mit der Haltung der leitenden Kreise in Ungarn, die kürzlich in einem
offiziösen Pester Blatte einen sehr scharfen Ausdruck gefunden habe. Handels-
minister Freiherr Glanz v. Eicha erklärt die Regierung erachte eine still-
schweigende Fortdauer des gegenwärtigen Bündnisses auf weitere zehn Jahre
für ausgeschlossen. Die Kündigung werde rechtzeitig vor Ablauf dieses
Jahres erfolgen. Mehrere Redner sprechen für die Dringlichkeit und er-
klären, ihre Angriffe richten sich nicht gegen Ungarn, sondern gegen die
dort herrschende Klique. Lueger greift die ungarische Regierung heftig an.