Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 27.—Juni 1.) 127
27. Mai. (Bayer. Abgeordnetenkammer.) Das Haus
lehnt mit 77 gegen 70 Stimmen die von der Regierung vor-
geschlagene und von der Kammer der Reichsräte bereits genehmigte
Gehaltsaufbesserung der Geistlichkeit ab. Gegen die Erhöhung
stimmen das Zentrum und der Bauernbund, für dieselbe die Libe-
ralen und die Konservativen.
30. Mai. (Potsdam.) Der Kaiser empfängt den chinesischen
Gesandten Lü Hai Hwan. Der Gesandte verliest folgendes Tele-
gramm des Kaisers von China:
Der Große Kaiser des Tatsing Reiches bietet dem Großen Deutschen
Kaiser den freundschaftlichen Gruß. Anläßlich des Besuches Euerer Maje-
stät Erlauchten Bruders in China haben Wir Uns bestrebt, Unsere auf-
richtigsten Gefühle der Freundschaft an den Tag zu legeu, und ist dadurch
beiden Reichen die gleiche und freudigste Genugthuung geworden. Uns be-
wußt des großen Auseinandergehens des Ceremoniells von China und Eu-
ropa, konnten Wir nicht umhin, darüber besorgt zu sein, daß der Geist
und der Buchstabe des Ceremoniells nicht vollkommen harmonieren könnten.
Nichtsdestoweniger haben Ew. Majestät telegraphisch Uns Allerhöchstderen
Anerkennung dafür zugehen zu lassen und Uns Allerhöchstderen Orden vom
Schwarzen Adler zu verleihen geruht als ein Zeichen der Befestigung gegen-
seitiger Freundschaft und guter Beziehungen. Am gestrigen Tage hat Uns
Ew. Majestät Erlauchter Bruder bei Höchstdessen Verabschiedung das Nähere
hierüber persönlich bestätigt und dadurch Unserem Herzen den tiefsten Trost
und die größte Freude bereitet. Als Erwiderung verleihen Wir Ew. Maje-
stät Unseren Doppelten-Drachen-Orden, und zwar die Erste Stufe der Ersten
Klasse desselben, zum Zeichen der beiderseitigen Freundschaft, damit das
Schöne des Friedens zwischen Unseren beiden Reichen immer mehr an den
Tag trete. Wir erteilten besonderen Befehl an Unseren Gesandten Lü Hai
Hwan, das Vorstehende mit Uebersetzung Ew. Majestät zu überreichen
und vorläufig Allerhöchstderselben diese Unsere Gefühle zum Ausdruck zu
bringen.
1. Juni. (Nürnberg.) Prinz Ludwig von Bayern nimmt
an einem Festmahl des deutsch-österreichischen Binnenschiffahrts-
tages teil und hält dabei folgende Rede über die Bedeutung der
Kanäle:
Der Prinz wendet sich gegen die Gegner der Kanäle und führt aus,
diese Gegner seien einmal diejenigen, welche fürchteten, daß die Eisenbahn-
Renten und andere vermeintliche Interessen geschädigt würden, andererseits
die Landwirte, die sich einbildeten, daß sie durch die Zufuhr, besonders von
landwirtschaftlichen Produkten aus dem Auslande, mehr oder weniger ge-
schädigt würden. Es sei kein Zweifel, daß jede Zufuhr von Erzeugnissen,
die man selbst hervorbringe, in gewisser Hinsicht eine Preisminderung der
eigenen Erzeugnisse zur Folge habe, aber man solle nicht übersehen, daß
man ebenso wie man ein-, auch ausführe und daß unsere Landwirtschaft
ohne Industrie einfach unmöglich sei. Er sei der letzte, der der Landwirt-
schaft einen gemäßigten Schutz mißgönne. In den letzten Jahren sind mit
Recht für Interessen, die das ganze Deutsche Reich berühren, besonders die
deutschen Küsten, die deutsche Flotte, Dampfer-Unterstützungen, Kaiser Wil-
helms-Kanal große Summen ausgegeben und es ist kein Zweifel, daß diese