154 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Aug. 26. — Anf. Sept.)
katholischen Familien. Wer sie hält, dürfe sich nicht mehr als treuer Sohn
der katholischen Kirche bezeichnen. Man dürfe nicht eher ruhen, als bis
das letzte schlechte Blatt aus dem letzten katholischen Hause vertrieben sei.
(Stürmischer Beifall.)
In einem Vortrag über die Schulfrage führt Pfarrer Lehnen aus,
daß bei den letzten Wahlen in nichtkatholischen Gegenden über zwei Mil-
lionen sozialdemokratische Stimmen, in katholischen nur etwas über 100000
abgegeben worden sind, gab der Entkirchlichung der Schule während des
Kulturkampfes daran die Schuld und folgerte aus dem Stimmenverhältnis
eine große Ehre für die katholische Kirche. Sie habe sich als die allein
rettende Macht erwiesen, die allein helfen kann, wenn alles in Trümmer
geht, wenn der Staat selbst nicht mehr helfen kann. Sie hat sich dadurch
nicht als inferior, sondern als superior erwiesen. (Stürmischer anhaltender
Beifall.) Die treue Arbeit der katholischen Lehrer in dieser Beziehung
verdient den Dank aller Katholiken. Ist es der Regierung Ernst in der
Bekämpfung des Umsturzes, so muß von der Regierung die Schule wieder
dem christlichen Einfluß geöffnet werden, müssen die katholischen Forderungen
in Bezug auf die Schule erfüllt werden. (Beifall.) Die Schule darf nicht
mehr der Platz für den Kampf zwischen Kirche und Staat werden. Fort
mit der Simultanschule, fort mit der religionslosen Schule! Wir ver-
langen die konfessionelle Schule in jeder Weise, in der die Religion nicht
bloß Fach, sondern der Lebensnerv des Unterrichts ist. (Stürmischer Bei-
fall.) Nicht im Namen des Staates, sondern im Namen der Kirche soll
der Priester Religion lehren dürfen. Vollständige Parität für die Katho-
liken! Aufhebung des alten Schulaufsichtsgesetzes! Wir verlangen ein
christliches Schulgesetz! (Brausender Beifall.)
26. August. (Reichstag.) Bei der Ersatzwahl im Wahl-
kreise Simmern-Kreuznach erhält Prof. Paasche (nl.) 8293, Prof.
Virchow (dfr. Vp.) 212 Stimmen.
Ende August. Anf. September. Die Presse über den Ab-
rüstungsvorschlag des Zaren (vgl. Rußland).
Die „Nordd. Allg. Ztg.“ schreibt: Die Einladung Sr. Majestät des
Kaisers von Rußland zu einem allgemeinen Abrüstungskongreß findet in
Deutschland die warme und aufrichtige Zustimmung, deren sie als ein die
Welt überstrahlendes Evangelium echter Friedensliebe bei unserem Kaiser
und dem deutschen Volke von vornherein gewiß sein konnte. . . . . .
Schwierigkeiten, wie sie jeder große Kulturgedanke auf dem Wege von seiner
Entstehung bis zur Verwirklichung durchlaufen muß, sollen uns nur um
so eifriger bemüht finden, das hochherzige Programm des Kaisers Nikolaus,
soweit es an uns liegt, durchführen zu helfen. Aus dem redlichen Be-
streben, Widerstände gemeinsam zu überwinden, werden die beiden Kaiser-
mächte für ihre wechselseitigen Beziehungen neuen Gewinn schöpfen, wäre
es auch nur eine unzweifelhafte Bekräftigung der wertvollen Einsicht, daß
weder Rußland für Deutschland, noch umgekehrt Deutschland für Rußland
ein Hindernis auf dem Wege bildet, der zum Weltfrieden führen könnte.
In der Presse aller Parteien wird der Vorschlag skeptisch betrachtet,
nur in einigen zur Linken gehörenden Blättern, wie der „Volks-Zeitung“,
wird der Aufruf als ausführbar behandelt. Dagegen schreibt der „Vor-
wärts“: So wie Napoleon III. sich als den Wahrer des Friedens auf-
spielte und stets das Wort im Munde führte: „L'empire 'est la paix“
(das Kaiserreich ist der Friede), so überrascht das offizielle Rußland nun,
vielleicht am Vorabende eines Krieges, der sich auf drei Ozeanen und in