Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Oltober 2./8.) 167
tische Macht erobern wolle, die der Liquidator bei dem Zusammenbruch der
heutigen Gesellschaft sein wolle. Wenn die franzöfischen Arbeiter dasselbe
1871 gesagt hätten, dann hätten wir sie nicht für Heroen, sondern für alte
Weiber gehalten. In der heutigen Zeit der Ueberraschungen, in der man
nie wisse, was der morgige Tag bringen wird, müssen wir stets gerüstet
sein, da wir nicht wissen, ob wir nicht plötzlich zur politischen Macht ge-
langen können. (Beifall.)
Am 4. Oktober wendet sich Abg. v. Vollmar gegen die Rednerinnen:
Ich sage im Gegensatze zu der Genossin Luxemburg: es könnte für uns
nichts Unglücklicheres geschehen, als wenn uns plötzlich zu beliebiger Zeit
die politische Macht in die Hände fiele, weil wir ja noch gar nicht die
Kraft und Fähigkeit, die politische Reife besitzen, sie festzuhalten! (Mur-
meln.) Nicht durch äußere Mittel, sondern durch innere Notwendigkeit
wollen wir siegen. Frl. Luxemburg: Ich erkläre, daß ich mir meine
Epauletten auf dem linken Flügel holen will, der gegen den Feind kämpft,
und nicht auf dem rechten Flügel, der mit dem Feinde schachert! (Große
Unruhe in der Umgebung des Herrn v. Vollmar. Zuruf: Da hört doch
alles auf!) Das Endziel, sage ich im Gegensatz zu andern Genossen, ist
alles, die Bewegung ist nichts! Sprechen wir unser Endziel klipp und klar
aus: das ist die beste Antwort auf die Oeynhausener Rede! — In der
weiteren überaus heftigen, an persönlichen Angriffen reichen Debatte wird
auch der „Vorwärts“ scharf kritisiert, der nicht genügend agitatorisch wirke,
sondern die „konzentrierte Langeweile“ sei. Ullrich verspottet die „rrrevo-
lutionären Phrasen“ und verlangt eine vorsichtige Taktik.
In einem Referat über das Koalitionsrecht führt Abg. Fischer aus:
Es gilt heute, gegen die beispiellose Drohung in Oeynhausen zu protestieren,
sonst könnte man meinen, wir hätten Angst. Deshalb dürfen wir die
kaiserliche Drohung nicht unerwidert lassen. Trotz allen Drohreden gegen
die vaterlandslose Rotte haben wir keine Furcht. Wenn der Kaiser in
Oeynhausen den deutschen Unternehmern seine Unterstützung für die wirt-
schaftlich schweren Stunden in Aussicht stellt — wohlan, wir, das Arbeiter-
parlament, wollen den deutschen Arbeitern auch unsere Hilfsbereitschaft
ausdrücken, indem wir sagen: rüstet Euch, wappnet Euch gegen die Gefahren
der Unterdrückungssucht der Reichsregierung. Wir wären ja Hundeseelen,
wenn wir nicht antworteten auf die ewige Betonung der „vaterlandlosen
Gesellen", des „inneren Feindes“, auf das Brandmal des Zuchthauses.
Wenn der Kaiser uns den Fehdehandschuh hinwirft — wir haben den Mut,
ihn aufzunehmen. (Beifall.) Wir werden den Arbeitern sagen, daß sie
von der monarchischen Regierung nichts zu hoffen, aber alles zu fürchten
haben. Wir werden ihnen sagen, daß die Voraussetzung der Befreiung aus
ihrer Lage die Niederzwingung des Monarchismus ist. Genossen! Ich bitte
um einstimmige Annahme meiner Resolution. Nie sind die Chancen für
unser Wachstum größer gewesen. Die Arbeiter werden erkennen, daß sie
ihre Vertretung nicht finden beim deutschen Kaiser oder Reichstag, sondern
allein bei der Sozialdemokratie! (Stürmischer anhaltender Beifall.) —
Ohne Debatte wird einstimmig eine Erklärung angenommen, daß die Oeyn-
hausener Rede den Verzicht auf die 1890 in Aussicht gestellte Sozialpolitik
beweise.
In einer längeren Debatte über die Wirtschaftspolitik gibt Kautsky
zu, daß die Landwirtschaft schwer leide, ihr könne aber unter den herrschen-
den Verhältnissen nicht mehr geholfen werden. In einer Resolution wird
dann ausgesprochen, daß die Industrie „im allgemeinen“ der Schutzzölle
entbehren könne. — Weiterhin wird beschlossen, die Gehälter der Partei-
beamten zu erhöhen.