Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierzehnter Jahrgang. 1898. (39)

Türkei. (Oktober 30. 31.) 337 
gnadenreiche Gott, wird unser Flehen erhören, das ist unsere Zuversicht. 
Er, der Allmächtige, ist der starke Fort, auf den wir bauen. „Mit unserer 
Macht ist nichts gethan, Wir sind gar bald verloren, Es streit’ für uns 
der rechte Mann, Den Gott selbst hat erkoren. Fragst Du, wer der ist, 
Er heißet Jefus Christ, der Herr Zebaoth, Und ist kein andrer Gott, Das 
Feld muß er behalten.“ 
30. Oktober. Das Kaiserpaar besucht Bethlehem. Der 
Kaiser hält folgende Ansprache an die evangelischen Geistlichen: 
„Wenn Ich die Eindrücke dieser letzten Tage wiedergeben soll, so muß 
Ich sagen, daß Ich doch vor allem sehr enttäuscht bin. Ich wollte das 
eigentlich hier nicht aussprechen. Aber nachdem Ich gehört, daß es auch 
andern, z. B. Meinem Oberhofprediger, nicht anders ergangen ist, so will 
Ich das doch vor Ihnen nicht zurückhalten. Es mag ja auch sein, daß die 
sehr ungünstige Zufahrt zur Stadt Jerusalem mit dazu beigetragen hat. 
Aber wenn man diese Zustände an den heiligen Stätten sieht, wie es da 
zugeht, das kann einem das Herz durchschneiden. Es ist doch eine gewaltige 
Thatsache, an deren Schauplatz wir stehen, die Emanation der Liebe des 
Schöpfers, und wie wenig entspricht dem das, was wir gesehen haben! Ich 
bin darum doppelt froh, hier in Bethlehem den ersten erhebenden Eindruck 
im heiligen Lande durch die Feier in Ihrer Mitte empfangen zu haben. 
Gerade dies Beispiel von Jerusalem mahnt uns dringend, daß wir die 
kleinen Abteilungen bei unserer Konfession möglichst zurückstellen, und daß 
ganz fest geschlossen hier im Orient die evangelische Kirche und das evange- 
lische Bekenntnis auftrete. Sonst können wir nichts machen. Wir können 
nur durch das Beispiel wirken, durch das Vorbild und den Beweis, daß 
das Evangelium ein Evangelium der Liebe ist nach allen Himmelsrichtungen 
hin, und daß es andere Früchte trägt. Auf die Mohammedaner kann nur 
das Leben der Christen Eindruck machen. Das kann ihnen kein Mensch 
übelnehmen, wenn sie vor dem christlichen Namen keine Achtung haben. 
Kirchlich spalten sie sich, sie müssen sogar durch äußere Gewalt der Waffen 
von den Streitigkeiten zurückgehalten werden. Politisch reißt man unter 
allen möglichen Vorspiegelungen ein Stück nach dem anderen von ihnen 
weg, wozu man gar keine Berechtigung hat, so daß ihre Einwirkung voll- 
ständig gesunken ist und man auf dies tiefe Niveau heruntergekommen 
ist. Jetzt sind wir an die Reihe gekommen! Das Deutsche Reich und 
der deutsche Name haben im ganzen osmanischen Reiche jetzt ein Ansehen 
gewonnen, wie es noch nie gewesen ist. An uns liegt es nun, zu zeigen, 
was die christliche Religion eigentlich ist, daß die Ausübung der christlichen 
Liebe auch gegen die Mohammedaner einfach unsere Pflicht ist, nicht durch 
Dogmen und Bekehrungsversuche, lediglich durch das Beispiel. Der Moham- 
medaner ist ein sehr glaubenseifriger Mensch, so daß es mit dem Predigen 
allein nicht gemacht ist. Aber unsere Kultur, unsere Anstalten, das Leben, 
das wir ihnen vorleben, die Art unseres Verkehrs mit ihnen, der Beweis, 
daß wir untereinander einig sind, darauf kommt es an. Es ist jetzt eine 
Art Examen, das wir abzulegen haben für unseren protestantischen Glauben 
und unser Bekenntnis, worin wir ihnen den Beweis geben müssen, was 
Christentum ist, und wodurch sie ein Interesse für unsere Religion und für 
das christliche Bekenntnis gewinnen können. 
(Nach den Aufzeichnungen des Pastor Schneller im „Reichsboten“.) 
31. Oktober. (Jerusalem.) Der Kaiser überweist das von 
ihm während seiner Anwesenheit in Konstantinopel erworbene 
Grundstück „la dormition de la Sainte Vierge“ in Jerusalem im 
Europäischer Geschichtskalender. Bd. XXIIT. 22
	        
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