Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtzehnter Jahrgang. 1902. (43)

172 Nas Veuische Reich und seine einzelnen Slieder. (Nov. Ende. Dez. 1.) 
wickelt, die sich unterordnen zum Wohle des Ganzen und zum Wohle des 
Volkes und des Vaterlandes. Dann wird das, was Ich in Aachen an- 
gedeutet habe, erst Wirklichkeit und Wahrheit werden, äußerlich begrenzt, 
innerlich unbegrenzt. Und hier auf Schlesiens Boden, da ziemt es sich 
wohl, an den großen König zu erinnern, der diesen Edelstein seiner Krone 
eingefügt hat; und das, was er für die Zukunft seines Vaterlandes im 
Auge hatte, das wollen wir auch weiter bilden: Freiheit für das Denken, 
Freiheit in der Weiterbildung der Religion und Freiheit für unsere wissen- 
schaftliche Forschung. Das ist die Freiheit, die Ich dem deutschen Volke 
wünsche und ihm erkämpfen möchte, aber nicht die Freizelt, sich nach Be- 
lieben schlecht zu regieren. Nun ergreife Ich diesen Pokal, gefüllt mit 
deutschem Wein, und trinke auf das Wohl der Stadt Görlitz und der 
Lausitz! Sie leben hoch! hoch! hoch! 
Die Rede, namentlich der letzte Passus, wird viel kommentiert, die 
Stelle über die Weiterbildung der Religion wird nach der Parteistellung 
mit Zustimmung oder Bedenken besprochen. Die „Kölnische Volkszeitung“ 
findet einen Widerspruch in der Rede zu der Aachener Rede (S. 111) und 
führt die religiösen Anschauungen des Kaisers auf den Einfluß des Hauptes 
der modernen Theologie Professor Harnack zurück, der einen hohen Ein- 
fluß am Hofe besitze und jedes positive Christentum, ja jede positive Re- 
ligion negiere. 
Nach den Aufzeichnungen des Denkmalsausschusses soll die Stelle 
übrigens gelautet haben: „Es ziemt sich wohl, hier auf schlesischem Boden 
an den großen König zu erinnern, der diesen Edelstein seiner Krone ein- 
gefügt hat, und so wie er die Zukunft im Auge behalten hat, so wollen 
wir auch weiter streben in der Freiheit der Religion und der Weiter- 
bildung unserer wissenschaftlichen Forschung. Das ist die Freiheit, die Ich 
dem deutschen Volke wünsche, aber nicht die Freiheit, sich selbst schlecht zu 
regieren.“ 
Ende November. Diskussion über die Verständigung und 
den Antrag Kardorff. 
Die Presse der Mehrheitsparteien begrüßt im allgemeinen das Vor- 
gehen der Reichstagsmehrheit mit Zustimmung. Die „Deutsche Tages- 
zeitung“ und die agrarischen Blätter verwerfen die Verständigung; sie 
bezeichne einen dies ater für die Landwirtschaft. Von den nationalliberalen 
Blättern greift die „Nationalzeitung“ den Antrag Kardorff scharf an als 
Vergewaltigung der Minderheit, auch einige nationalliberale Versamm- 
lungen äußern sich ähnlich; andererseits erhält die Fraktion viele Zustim- 
mungserklärungen. Der „Vorwärts“ nennt die Mehrheit Zollbriganten. 
1. Dezember. (Reichstag.) Zulässigkeit des Antrags Kar- 
dorff. Rede Richters gegen die Obstruktion. 
Abg. v. Kröcher (kons.) tadelt scharf, daß viele Angehörige der 
Mehrheit dem Reichstage fernbleiben, so daß die Linke wiederholt die 
Beschlußunfähigkeit herbeigeführt habe. Abg. Richter (fr. Vp.) verteidigt 
seine Partei gegen die Angriffe der Sozialdemokraten und freisinnigen 
Vereinigung, daß sie sich an der Obstruktion nicht beteilige. Man will 
einen Gesetzentwurf über 18 Monate hinausziehen und alle parlamenta- 
rischen Verhandlungen zu nichte machen, indem man den auf 5 Jahre 
gewählten Reichstag hindert, seine Mehrheitsansichten zum Durchbruch zu 
bringen. Dann könnte man jeden guten Agitationsstoff für eine Wahl- 
kampagne auf Jahre hinausziehen. Das müßte eine jammervolle Mehr- 
heit sein, die sich einen solchen Obstruktionsfeldzug gefallen ließe. Hiernach