Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtzehnter Jahrgang. 1902. (43)

Hebersicht der politischen Eniwikelung des Jahres 1902. 341 
freifinnige Vereinigung, suchten vielmehr die Erledigung des Ent- 
wurfes durch Obstruktion zu verhindern; sie begannen damit schon 
in der Kommissionsberatung und gaben sie erst auf, als die Re- 
gierung durch Gewährung von Diäten an die Kommissionsmitglieder 
den festen Entschluß offenbarte, die Kommissionsberatung vor dem 
Beginn der Herbstsession zu Ende zu bringen. Welche Schwierig- 
keiten aber da die Rechte der Regierung machte, zeigte gleich zu 
Anfang des Jahres die Versammlung des Bundes der Landwirte. 
In den schärfsten Ausdrücken warf sie dem Reichskanzler Vernach- 
lässigung der Landwirtschaft vor und forderte als Mindestzoll für 
die Hauptgetreidearten 7,50 Mark anstatt der von der Regierung 
vorgeschlagenen Sätze von 3 bis 5 Mark. Freilich huldigte diesem 
Radikalismus nur ein kleiner Teil der konservativen Parlamentarier. 
Als in der Kommission ein Kompromißvorschlag gemacht wurde, 
der die Positionen der Regierung etwas erhöhte (S. 40), aber die 
Sätze des Bundes der Landwirte nicht erreichte, entschied sich die 
Mehrheit des Zentrums und der Konservativen für die Annahme, 
die Vertreter des Bundes der Landwirte blieben in der Minderheit. 
Obwohl die Regierung in mehreren Erklärungen aufs bündigste 
jede Erhöhung der Getreidezölle ablehnte, hielt die Mehrheit der 
Kommission an ihren Beschlüssen fest, in der Meinung, daß die 
Regierung noch nicht das letzte Wort gesprochen habe sondern sich 
dem Willen der Mehrheit beugen werde. Als daher der Reichstag 
Mitte Oktober zur zweiten Tagung zusammentrat, war das Schick- 
sal der Vorlage noch ganz ungewiß: der Reichskanzler erklärte sich 
entschieden gegen die Kommissionsbeschlüsse, weil sie den Abschluß 
von Handelsverträgen erschweren würden, die Rechte erwiderte, ohne 
Zollerhöhungen für die Landwirtschaft liege ihr nichts an Handels- 
verträgen; die äußerste Linke verkündete offen, daß sie Obstruktion 
üben und eine Erledigung der Vorlage nicht zulassen werde, um 
sie als Wahlparole zu benutzen. Wenn der Kanzler die Linke vor 
der Obstruktion warnte, weil sie zum Schaden des Parlamentaris= 
mus ausschlagen müsse, so mußte er dagegen von der Rechten den 
Vorwurf hören, daß die Regierung selbst die Würde des Reichs- 
tags herabsetze, indem sie alle Wünsche der Mehrheit auf Anderung 
der Regierungsvorlage brüsk ablehne und kategorisch auf der Ge-
	        
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