Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Fas Vesche Reich und seine einfelnen Glieder. (Dezember.) 229 
Deutschland die ihm gebührende Stellung im Staatsleben zu erringen. 
Wir fordern alle Organisationen der Freisinnigen Volkspartei auf, un- 
gesäumt zur Wahlarbeit zu schreiten, eine Verständigung über die Auf- 
stellung der Kandidaturen alsbald herbeizuführen und eine planmäßige, 
stetige, arbeitsfreudige Werbearbeit zu entfalten. Die Leitung der Frei- 
sinnigen Volkspartei wird Rat und Unterstützung nach Kräften gewähren. 
Wir vertrauen darauf, daß die Partei ihre Geschlossenheit, Kampfesfreudig- 
keit und Stoßkraft von neuem bestätigen wird. Im Geiste unseres dahin- 
geschiedenen großen Führers kämpfen wir für die Befestigung der natio- 
nalen Einigung Deutschlands, den Ausbau der politischen Freiheit und 
die Hebung der Wohlfahrt des gesamten Volkes. 
Aufruf der Nationalliberalen: Endlich eine erlösende Tat, ein Auf- 
atmen nach lange getragenem Druck! Das war die uns allen gemeinsame 
Empfindung, als am gestrigen Abend nach schwerem Ringen unserer Reichs- 
tagsfraktion mit dem Zentrum der Reichskanzler eine kaiserliche Verord- 
nung ankündigte. Die Auflösung des Reichstags, der Ruf an das deutsche 
Volk war es, was allein noch übrig blieb, als sich ergab, daß die Gemein- 
schaft der nationalen Parteien im Hause nicht stark genug sein werde, um 
dem kaudinischen Joch des Zentrums sich zu entziehen. Seit Jahren hat 
das Zentrum dieses Joch über den Reichstag, die Gesamtvertretung des 
deutschen Volkes, gelegt. So ist jetzt das Reich in Gefahr gekommen, vor 
dem Auslande zu bekennen, daß wir einen uns aufgezwungenen Krieg 
nicht mehr in Ehren zu Ende zu bringen vermögen. Werden die verbün- 
deten Regierungen stark genug sein, um mit diesem Zustande zu brechen? 
So lautete die bange Frage unter uns noch am Morgen desselben Tages. 
Da kam die kaiserliche Botschaft und minutenlanger Beifall begleitete die 
Auflösung, helle Freude leuchtete auf den Mienen auch derjenigen unserer 
Abgeordneten, die sich sagen mußten, daß vor ihnen ein besonders schwerer 
Wahlkampf stehe zu winterlicher Zeit. Warum? Diese Auflösung ist nichts 
anderes als das Bekenntnis der verbündeten Regierungen zu derjenigen 
Politik, welcher unsere Partei von jeher zu dienen gesucht hat! Diese 
Politik ist nicht etwa nur die Kolonialpolitik, die den lediglich zufälligen 
Anlaß zur Auflösung gab, sondern es ist die Politik der nationalen Ehre, 
die Politik der freien Entwickelung unseres Volkes, die Politik, welche eine 
starke zielbewußte Leitung der Reichsgeschäfte ohne Nebenregierung ver- 
langt, welche dem Kaiser geben will, was des Kaisers ist, und die für das 
Parlament diejenigen Rechte fordert, welche ihm verfassungsmäßig zustehen. 
Indessen, das Parlament soll das Gesamtvolk vertreten, nicht nur zwei 
Richtungen im Volke, das Parlament soll nicht nur Zentrum und Sozial- 
demokratie sein. Das gebildete Bürgertum, der deutsche Bauer, der Be- 
amte, der Kaufmann, der Handwerker, der Arbeiter, kurz alle Stände, die 
kaisertreu, sich nicht nur nach konfessionellen Fragen und nicht nur nach 
Klasseninteressen zu ihren Parteien bekennen, einerlei, ob sie konservativ, 
nationalliberal oder freisinnig wählen, sie alle haben den gleichen Anspruch 
darauf, in der Volksvertretung zu ihrem politischen Rechte zu kommen. 
Dies ist seit langen Jahren tatsächlich nicht mehr der Fall gewesen. Der 
deutsche Reichstag — was beschloß er in vielen wichtigen Fragen? Was 
Zentrum und Sozialdemokratie zuzulassen beliebten, allzu häufig leider 
unter stiller oder offener Nachgiebigkeit der verbündeten Regierungen. Das 
hat, so hoffen wir, mit dieser Auflösung des Reichstags ein Ende, wenig- 
stens dann, wenn das deutsche Volk, an dem es jetzt ist, seinen Willen in 
Neuwahlen kundzutun, sich nicht selbst zur klerikal-sozialdemokratischen Herr- 
schaft bekennen will. Was war der besondere Anlaß zur Auflösung? Es 
lag zur Beschlußfassung ein Nachtragsetat vor. Es wurden von den ver-
	        
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