232 Nas NVeuische Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 26. 31.)
26. Dezember. Die Nachricht von der Unierwerfung der
Bondelzwarts trifft ein. Das „Berliner Tageblatt“ deutet an,
die Regierung habe von der bevorstehenden Unterwerfung schon vor
dem 13. Dezember Kenntnis gehabt, aber dem Reichstag die Lage
verschleiert. Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ verweist dar-
auf, daß die Vertreter des Generalstabs eine baldige Niederwerfung
des Aufstandes in Aussicht gestellt hätten.
31. Januar. Der Reichskanzler richtet folgenden Brief über
die Wahlbewegung an den Vorsitzenden des Reichsverbandes gegen
die Sozialdemokratie, General v. Liebert:
Berlin, Silvester 1906. In dem Schreiben des Reichsverbandes
zur Bekämpfung der Sozialdemokratie vom 18. Dezember d. J. ist mir
nahegelegt worden, vor der Reichstagswahl noch eine aufklärende Kund-
gebung zu erlassen. Ich komme dieser Anregung gerne nach und bitte,
für die öffentliche Verbreitung dieser Antwort Sorge zu tragen. Die
parlamentarische Lage, die ich bei meinem Amtsantritte vorfand, war nicht
wesentlich verschieden von der im letzten Reichstage: die bürgerliche Linke
in drei, vier Gruppen gespalten, die Rechte einiger zwar, aber an Zahl
ebenso schwach, wie die Liberalen zusammen; in der Mitte die stärkste
Partei, das Zentrum, schon damals nahezu imstande, entweder nebst Polen,
Welfen u. s. w. mit den Sozialdemokraten oder mit den Konservativen und
dem rechten Flügel der Liberalen eine Mehrheit zu bilden. Eine andere
Möglichkeit, als mit dem Zentrum die Geschäfte zu erledigen, gab es,
namentlich seit den Wahlen von 1903, nicht. Der Reichskanzler war auf
die Mitarbeit dieser Partei angewiesen; er mußte versuchen, ihre Zustim-
mung zu den im Interesse des Landes notwendigen wirtschaftlichen und
nationalen Vorlagen zu erlangen. Daß er dem Zentrum zuliebe staatliche
Hoheitsrechte preisgegeben oder sich in religiösen und kulturellen Fragen
schwach gezeigt habe, bestreite ich. Jedenfalls darf nicht vergessen werden,
daß die wichtigsten Aufgaben, die Verstärkung der Seewehr, der Handels-
verträge, die Finanzreform, nur mit Hilfe des Zentrums zu lösen waren
und gelöst worden sind. Ich habe diesen Zustand der Abhängigkeit der
parlamentarischen Ergebnisse von dem guten Willen einer Partei in dem
vielgestaltigen deutschen Parteigetriebe immer als nicht unbedenklich em-
pfunden. Ihn zu ändern hatte ich solange keinen Grund, als das Zentrum
sich bereit zeigte, mit den verbündeten Regierungen positive Arbeit zu
leisten, und der Versuchung, seine parlamentarische Stärke zu mißbrauchen,
nicht nachgab. Aber bereits im Frühjahr des abgelaufenen Jahres wurden
drei dringend nötige Forderungen, die Eisenbahn Keetmanshoop, die Ent-
schädigung der Farmer, die Errichtung eines Kolonialamtes durch eine
von Zentrum und Sozialdemokratie geführte Oppositionsmehrheit verworfen.
Damals konnte ich, von schwerer Krankheit noch nicht erholt, nicht ein-
greifen. Aber es reifte in mir der Entschluß, jedem neuen Versuch solcher
Machtproben bei ernsten und wichtigen Angelegenheiten des Reiches mit
aller Kraft entgegenzutreten. Neben der dann notwendigen Wahrung der
Autorität der Regierung und ihrer Stellung über den Parteien schien mir
auch ein gewisser Wandel in den doktrinären Anschauungen der Vertreter
des liberalen Bürgertums und der steigende Widerwille gegen das sozial-
demokratische Treiben die Hoffnung zu rechtfertigen, daß eine Aenderung
der parlamentarischen Lage durch das deutsche Volk selbst möglich sei. In