Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 30.) 21
Die Regierung hatte die Pflicht, von vornherein diese Frage zu prüfen,
und das ist geschehen, bevor die Vorlage eingebracht wurde. Eine sorg-
fältige Prüfung hat der Regierung die Ueberzeugung verschafft, daß kein
Zweifel besteht, daß dieses gesetzgeberische Vorgehen nicht im Widerspruch
mit der Reichsgesetzgebung steht und ebensowenig mit der preußischen Ver-
fassung. Nach dem Artikel 9 der preußischen Verfassung ist das Eigentum
unverletzlich und darf nur genommen werden gegen Entschädigung im
Interesse des öffentlichen Wohls. Die Vorlage steht nun aber auf dem
Boden, daß das öffentliche Wohl diese Maßnahme erfordert. Was öffent-
liches Wohl sei, sagt die Verfassung nicht. Darüber ist gestritten worden,
und manche behaupten, es könne sich dabei nur um das wirtschaftliche
Wohl handeln, aber nicht um das politische Wohl, das Staatswohl.
Meines Erachtens unterliegt es keinem Zweifel, daß, wenn der Staat das
Eigentum des einzelnen haben muß, er es nehmen darf, wenn er volle
Entschädigung gewährt. Die Regierung ist der Ueberzeugung, daß im
vorliegenden Falle der Staat dieses Eigentums bedarf, um den Staat zu
erhalten, wie er ist. Von diesem Standpunkt aus erfordert das öffentliche
Wohl die Zwangsenteignung, eine Entschädigung soll in vollem Maße ge-
währt werden. Es ist auch nicht zutreffend, daß der Rechtsweg ausgeschlossen
ist, der ist vielmehr wegen der Höhe der Entschädigung zulässig. Es wird
vom Geist der Verfassung gesprochen, der Geist der Verfassung ist aber im
Artikel 9 niedergelegt; die richtige Auslegung des Artikels 9 entspricht
also dem Geist der Verfassung. Die Regierung ist also vollständig über-
zeugt, daß die Vorlage auf dem Standpunkt der Verfassung steht, und dies
ist auch durch den mit großer Mehrheit gefaßten Beschluß des anderen
Hauses bestätigt worden.
Die Vorlage wird an eine Kommission verwiesen.
30. Januar. (Bremen.) Die Bürgerschaft lehnt einen sozial-
demokratischen Antrag auf Einführung des allgemeinen Stimmrechts
für die Bürgerschaftswahlen ab. — Die „Weserztg.“ schreibt dazu:
„Ein sozialdemokratischer Redner suchte die Möglichkeit einer Mehr-
heit seiner Partei in einer nach allgemeinem Stimmrecht gewählten Bürger-
schaft abzustreiten. Er wollte die Bürgerschaft beschwichtigen. Jetzt aller-
dings haben die Herren nur 19 unter 68 Stimmen. Wären im gleichen
Verhältnis alle 150 Mitglieder zu wählen, so stiege ihre Partei sofort
auf 42. Das wäre noch lange nicht die Mehrheit. In der Reichstags-
wahl hat sie 1903 die Mehrheit gehabt und 1907 ist sie nur wenig da-
hinter zurückgeblieben. Der große Unterschied in ihren Erfolgen rührt
daher, daß für die Bürgerschaft nur bremische Bürger das Wahlrecht haben,
daß dieses aber nur gegen eine Gebühr von 16½ Mark zu erlangen ist.
Wenn nun auf Grund des jetzigen Bürgerrechts die Zahl der Sozial-
demokraten auf 42 stiege, so würde selbstverständlich ihre nächste Forderung
die Aufhebung des Bürgerrechtsgeldes sein. Diese verlangen sie ja jetzt
schon, und dann hätten sie ja eine ganz andere Macht dazu, zumal sie in
einer Anzahl von Wahlbezirken bei Stichwahlen demjenigen Kandidaten
ihre Stimmen geben würden, der ihnen diese Aufhebung verspräche. Also
dieses Verlangen würde mit ganz ungleich größerer Wucht vertreten werden
als jetzt. Und falls es durchgesetzt würde, so hätten wir für die Bürger-
schaft die mit der Reichstagswählerschaft identische Wählerschaft, also die,
die 1903 schon eine sozialdemokratische Mehrheit gehabt hat und leicht eine
solche wieder haben kann. — Wer es also für unzulässig hält, daß ein
Staat, daß Bremen eine sozialdemokratische Mehrheit in seiner Volks-