22 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar Ende.)
vertretung hat, der darf sich auf ein solches Experiment nicht einlassen,
falls die allgemeine Wählerschaft zur Hälfte aus Sozialdemokraten besteht.
Er würde damit eine Verantwortung übernehmen, der kaum eine zweite
gleich käme. Es ist unweise, sich von einem Prinzip zu Tode reiten zu
lassen. Kein Prinzip steht in der Welt der Tatsachen für sich allein da,
wie es in der Welt der Gedanken tut. Es findet stets an anderen ebenso
berechtigten Grundsätzen seine Schranken. Zu diesen gehört, daß man nicht
ohne weiteres Einrichtungen aus großen Verhältnissen auf kleine über-
tragen darf, nicht von großen Staaten mit ganz verschiedenartig zusammen-
gesetzter Bevölkerung auf einen kleinen Stadtstaat mit wesentlich von Handel,
Gewerbe, Industrie und Schiffahrt lebender Bevölkerung. Eines schickt
sich nicht für alle, sehe jeder, wie er's treibe. — Einen Vorgeschmack von
den Annehmlichkeiten einer sozialdemokratischen Bürgerschaftsmehrheit gaben
die gestrigen Redner der Vertreter dieser Partei. An Beschimpfung und
unsauberer Verdächtigung der Gegner waren sie kaum noch zu überbieten.
Doch weit mehr würde die reale Macht ins Gewicht fallen. Die Staats-
maschinerie kann ohne Budget, ohne eine große Zahl von Beschlüssen der
Bürgerschaft nicht laufen. Bei einem jeden Anlaß könnte die Mehrheit
ihre Bedingungen stellen. Daß damit ein bürgerlicher Senat nicht aus-
kommen könnte, sieht die Partei selbst ein. Daher ruft sie denn auch bereits:
„Dann kann er abtreten!“ Sehr richtig! Auf diesem Wege kommt man dahin,
Bremen in einen sozialdemokratischen Staat zu verwandeln. Lieber nicht!“
Ende Januar. Katholische Kritik der Enzyklika.
Der Professor der katholischen Theologie Ehrhard in Straßburg
kritisiert die Enzyklika in der „Internationalen Wochenschrift“, da sie für
die wissenschaftliche Theologie eine unerträgliche Lage schaffe. Er wird
vom „Osservatore Romano“ scharf zurechtgewiesen wegen Unwissenheit und
Mangel an Ehrfurcht vor dem Papst. Professor Ehrhard erklärt deshalb
in der „Kölnischen Volkszeitung“", daß ihm jede Verletzung der Pietät fern
liege und er durchaus auf dem Boden des katholischen Dogmas stehe.
Ende Januar. Die deutschen Bischöfe erlassen einen Hirten-
brief gegen den Modernismus, worin es heißt:
Aber was uns tief zu Herzen geht, ist die Erfahrung, daß selbst
einzelne Priester, angesteckt von dem Geiste der Unzufriedenheit, Kritisier-
sucht und Verachtung der Autorität, sich soweit vergessen, daß sie in Zei-
tungen, selbst in kirchenfeindlichen, kirchliche Institutionen und Vorgesetzte
einer ebenso unzarten wie ungerechten Kritik unterziehen, die Fahne radi-
kaler Opposition erheben und die Hilfe bei den Feinden der Kirche suchen,
um ihre kirchlichen Vorgesetzten einzuschüchtern oder sich Genugtuung zu
verschaffen wegen vermeintlich erlittenen Unrechts oder wegen nicht in Er-
füllung gegangener Erwartungen. Ihr fühlet mit uns, wie unehrenhaft
ein solches Verhalten ist, wie es die Betreffenden brandmarkt, aber auch
unseren ganzen Stand bloßstellt, in schwerer Zeit unsere Sache schädigt
und unsere Einigkeit schwächt.. Mögen die Verirrten das Wehe nicht
vergessen, welches der Herr der Kirche über jene gerufen, durch welche
Aergernis kommt! (Matth. 18, 7.) Mögen alle Guten zusammenhelfen,
damit diese Unsitte nirgends Wurzel fassen könne. . Wie notwendig es
ist, daß der Klerus in dem Eifer und der Gewissenhaftigkeit, womit er
dem Volke das gesunde Brot des Geistes darzureichen bemüht ist, aus-
harrt, zeigen manche gebildete katholische Laienkreise, deren sich eine gewisse
Beunruhigung bemächtigt hat, als sei durch die Enzyklika das wissenschaft-
liche Streben und die Selbständigkeit des Denkens und Forschens bedroht,