Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierundzwanzigster Jahrgang. 1908. (49)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. Ende. Febr. Anf.) 23 
und als solle die Mitarbeit an den Kulturaufgaben der Menschen kirchlicher- 
seits verboten oder unmöglich gemacht werden. Möchten sie doch alle er- 
kennen, wie grundlos solche Befürchtungen sind! Die Kirche will nur einer 
Freiheit Schranken ziehen — der Freiheit, zu irren."“ 
Ende Januar. Die „Freisinnige Zeitung“ schreibt über die 
Wahlrechtsdemonstrationen: 
„Straßendemonstrationen und Revolutionsspielereien sind, wie die 
Dinge heute liegen, mehr als ein Verbrechen, sie sind eine Dummheit, 
und die Freisinnige Volkspartei weist es auf das entschiedenste ab, sich 
direkt oder indirekt an einer solchen Dummheit zu beteiligen. Wenn die 
Heißsporne, die jetzt in gewissen Versammlungen für das Hinabsteigen auf 
die Straße Propaganda machen, ihre Haut zu Markte tragen wollen, so 
können wir sie nicht daran hindern. Aber damit sie sich nicht später da- 
durch entschuldigen, sie hätten die Konsequenzen ihrer Handlungsweise nicht 
erkannt, so sei ihnen nochmals zu Gemüte geführt, daß jede Ungesetzlichkeit 
und jede Anwendung von Gewalt die Chancen der Wahlrechtsreform in 
Preußen nicht vermehrt, sondern vermindert. Eine Besserung ist nur auf 
dem legitimen Wege der Wahlagitation zu erreichen, und diesen wird die 
Freisinnige Volkspartei einschlagen mit aller Entschiedenheit und mit der 
wohlbegründeten Hoffnung auf Erfolg.“ 
31. Januar. Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ schreibt 
über die internationale Entschädigungskommission in Casablanca: 
„Den Pariser Pressemeldungen über eine Vereinbarung zwischen 
Deutschland und Frankreich wegen einer internationalen Entschädigungs- 
kommission in Casablanca liegt folgendes zugrunde: Es ist vereinbart 
worden, daß die von der deutschen Kommission in Casablanca zum Zwecke 
der Verteilung des Reichsvorschusses bereits festgestellten Schadenabschätzungen 
von der internationalen Kommission nur daraufhin zu prüfen sind, ob sie 
den von Deutschland im Einklang mit den anderen beteiligten Mächten 
aufgestellten Grundsätzen für die Berechnung der Schäden entsprechen. Nur 
wenn und soweit sich ergibt, daß diese Grundsätze im einzelnen Falle nicht 
beobachtet worden sind, soll eine Neuabschätzung stattfinden. Im übrigen 
haben sich Frankreich und Spanien anheischig gemacht, soweit es an 
ihnen liegt, dafür einzutreten, daß die von Deutschland und von anderen 
Staaten bereits angestellten Abschätzungen in ernste Berücksichtigung ge- 
zogen werden. 
1. Februar. Der Reichstag genehmigt mit 213 gegen 
67 Stimmen folgenden Antrag zum Marineetat: 
Den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, Arbeiten für die Marine- 
verwaltung nur an solche Firmen zu vergeben, welche in Beziehung auf 
die Arbeitsbedingungen die gesetzlichen Vorschriften einhalten und, falls 
Tarifverträge für die betreffende Art der Arbeit am Ort des Betriebes 
gelten, nicht hinter den Bestimmungen dieser Tarifverträge zurückbleiben, 
sowie die Marineverwaltung anzuweisen, die Festsetzung oder Neuordnung 
von Arbeitsbedingungen in den Reichsmarinebetrieben unter Mitwirkung 
der Arbeiterausschüsse vorzunehmen. 
Anfang Februar. (Berlin.) Einige Mitglieder der frei- 
finnigen Vereinigung unter Führung der früheren Abgg. Barth 
und v. Gerlach scheiden aus der Partei aus, weil sie angesichts der 
 
	        
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