382 Rußland. (Februar 19.)
Vertragsmächte in der einen oder anderen Richtung nicht vorgesehen ist.
Doch darf nicht vergessen werden, daß dieses Abkommen beiden Mächten
die Verpflichtung auferlegt, einmütig zum Nutzen der christlichen Bevölke-
rung Makedoniens zu handeln und alle Anstrengungen zur Verwirklichung
der vereinbarten Punkte im Mürzsteger Reformprogramm zu machen. Es
fragt sich nun, ob die Reformen gegenwärtig vorgeschritten sind, und ob
das Separatabkommen Oesterreich-Ungarns wegen der Eisenbahnfrage die
Verwirklichung der Reformen nicht in ungünstigem Sinne beeinflußt hat.
Die in die Presse gedrungenen Meldungen über die Vorgänge der letzten
Botschaftersitzung in Konstantinopel beweisen klar, daß die allerwichtigste
der beabsichtigten Reformen, die Justizreform, weniger denn je Aussichten
auf Verwirklichung hat, da es offenbar unmöglich ist, damit zu rechnen,
daß die Pforte ihr zustimmen wird. Es bedarf keiner besonderen Erfah-
rung in diplomatischen Dingen, um zu begreifen, wie sehr das Hervortreten
einer der Mächte mit der Forderung eines separaten Vorzugs die Hart-
näckigkeit der Türkei verstärkte, die stets mit einer Störung in der Einigkeit
rechnet. Damit scheint der vom „Fremdenblatt“ bestrittene innere Zusam-
menhang der Eisenbahnpolitik Oesterreich-Ungarns mit der Reformfrage
klar nachgewiesen zu sein. Der letzten These des „Fremdenblattes“ uns zu-
wendend, begrüßen wir mit Genugtuung die Erklärung, Oesterreich-Ungarn
habe, die Verwirklichung der Sandschakbahn anstrebend, nur die Entwickelung
des wirtschaftlichen Wohlstandes der Balkanhalbinsel im Auge und werde
daher in keiner Weise protestieren, falls der genannte Bahnbau Anstoß zur
Herstellung anderer Bahnen auf der Balkanhalbinsel geben werde. Diese Er-
klärung ergänzt wesentlich die dieser Tage publizierte offizielle Widerlegung
des Gerüchts, die österreichische Regierung fordere von der Türkei nicht
nur die Bahnkonzession bis Mitrowitza, sondern auch das ausschließliche
Recht auf alle Konzessionen in den Wilajets Kossowo und Saloniki. Die
russische, wie die Auslandspresse schenkten diesen Erklärungen keinen Glauben.
Wir folgen ihrem Beispiele nicht und nehmen das Dementi um so lieber
zur Kenntnis, als daraus logischerweise sich ergeben muß, daß Oesterreich-
Ungarn, falls die interessierten Balkanstaaten mit einem ihnen am vor-
teilhaftesten erscheinenden Projekt der sogenannten Transbalkanbahn von
der Donau bis zum Adriatischen Mcer hervortreten würden, weder den
eigenen Anstrengungen dieser Staaten noch Schritten und Maßnahmen
entgegenwirken würde, welche Rußland zu ihrer Unterstützung zu ergreifen
nötig finden würde. Die österreichische Presse versucht, die Erregung der
öffentlichen Meinung Rußlands durch Neid über Oesterreichs politisch-öko-
nomischen Erfolg zu erklären, was aber grundfalsch ist. Rußland sucht
auf der Balkanhalbinsel keine Erfolge oder persönliche Vorteile. Im vollen
Bewußtsein seiner historischen und nationalen Aufgabe wünscht Rußland
bloß eines, die richtige allmähliche Entwicklung der Balkanstaaten, die ihr
politisches Bestehen den jahrhundertelangen Anstrengungen und Opfern des
russischen Volkes verdanken. Rußland wünscht aufrichtig, mit dem türki-
schen Nachbar in Frieden zu leben, mit dem es seit über dreißig Jahren
die freundschaftlichsten Beziehungen unterhält. Bei dem Bestreben, die für
die Christen in Makedonien notwendigen Reformen durchzuführen, hat
Rußland durchaus keine Anschläge auf die Integrität und Unabhängigkeit
der Türkei im Sinne, es sucht im Gegenteil nur Mittel und Wege zur
Beseitigung möglicher, für ganz Europa gefährlicher Verwicklungen. In
dieser Richtung handelte Rußland in loyalster Weise gemeinsam mit Oester-
reich-Ungarn und ist auch fürderhin bereit, diesen Weg wie mit Oesterreich-
Ungarn so auch mit allen übrigen Mächten zu gehen, wenn sie ein gleiches
Ziel anstreben werden. Die nächste Zukunft wird zeigen, in welchem Maße