88 HNaos Venutsche Reicz und seine einzelnen Glieder. (April 22./23.)
finden, weil, abgesehen von dem fraglichen neuen Wahlgesetzentwurf, der
noch vorliegende Stoff — man denke nur an die Beamtenbesoldungs-
vorlage, das Wassergesetz usw. — unmöglich aufgearbeitet werden könne.
(„Berliner Neueste Nachrichten.“)
22./23. April. (Frankfurt a. M.) Delegiertentag der Frei-
finnigen Vereinigung.
Die Versammlung faßt folgenden Beschluß über die Reichsfinanz-
reform: Die ungünstige Finanzlage des Reiches hat ihre Ursache vorwiegend
in der alles verteuernden Schutzzoll- und Absperrungspolitik. Solange
Deutschland an dieser Politik festhält, ist eine dauernde Gesundung unserer
Finanzen nicht zu erwarten. Indessen ist die baldige Deckung der Bedürf-
nisse des Reiches notwendig im Interesse der Aufrechterhaltung des poli-
tischen und wirtschaftlichen Ansehens des Reiches im In= und Auslande.
Zur Deckung des Bedarfes ist in erster Linie eine ausreichende Heran-
ziehung der leistungsfähigen Klassen erforderlich. Daher verlangen wir
die Schaffung einer Reichseinkommensteuer und Vermögenssteuer und die
Ausdehnung der Erbschaftssteuer auf Deszendenten und Ehegatten. Dazu
muß eine Reform der Matrikularbeiträge kommen unter Schaffung eines
besseren Verteilungsmodus auf die Einzelstaaten. Hand in Hand damit
muß die Umgestaltung der Branntweinsteuer gehen, die dem Reiche den
vollen Ertrag sichert. Mit der Schaffung ausreichender Mehreinnahmen
muß aber auch eine Herabsetzung der Ausgaben verbunden sein, nicht nur
durch allgemeine Sparsamkeit, sondern auch durch eine Vereinfachung und
Verbesserung der gesamten Verwaltung und durch eine Herabsetzung der
finanziellen Lasten für die deutsche Wehrmacht unter voller Aufrechterhal-
tung der Machtstellung des Deutschen Reiches.
Einige radikale Elemente scheiden aus der Partei unter Protest
gegen die Blockpolitik aus; von den Abgeordneten tritt keiner aus.
23. April. (Berlin.) Folgender Vertrag über die Be-
ziehungen der Nordseestaaten wird abgeschlossen:
I. Deklaration. Die Regierungen von Deutschland, Dänemark,
Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und Schweden sind von dem
Wunsche geleitet, die zwischen ihren Staaten bestehenden Bande nachbar-
schaftlicher Freundschaft zu stärken und dadurch zur Erhaltung des all-
gemeinen Friedens beizutragen und stimmen in der Ueberzeugung überein,
daß ihre Politik mit Bezug auf die an die Nordsee grenzenden Gebiete
die Aufrechterhaltung des jetzigen territorialen status quo zum Gegen-
stande hat. Sie erklären deshalb, daß sie fest entschlossen sind, die zurzeit
bestehenden Hoheitsrechte ihrer Staaten an ihren Gebieten in jenen Gegenden
unverletzt zu erhalten und gegenseitig zu achten. Sollten irgend welche
Umstände eintreten, welche nach Ansicht einer der vorgenannten Regie-
rungen den gegenwärtigen territorialen status quo in den an die Nordsee
grenzenden Gebieten bedrohen, so werden die Signatarmächte der gegen-
wärtigen Deklaration miteinander in Verbindung treten, um sich im Wege
einer Vereinbarung untereinander über Maßnahmen zu verständigen, die
sie im Interesse der Aufrechterhaltung des status quo ihrer Besitzungen
für nützlich halten möchten. Die gegenwärtige Erklärung wird mit tun-
lichster Beschleunigung ratifiziert werden. Die Ratifikationen werden mög-
lichst bald und spätestens am 31. Dezember 1908 in Berlin niedergelegt
werden. Ueber die Niederlegung jeder Ratifikation wird ein Protokoll
aufgenommen werden, von dem eine beglaubigte Abschrift auf diplomatischem
Wege den Signatarmächten übermittelt werden wird.