Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenundzwanzigster Jahrgang. 1911. (52)

246 Nas Veutsche Reich und seine eintelnen Glieder. (November 17.) 
wir uns gezwungen, der Bitte einer Reihe namhafter Kaufhäuser nach- 
zukommen und die Sicherung von Leben und Eigentum deutscher Reichs- 
angehöriger und Schutzgenossen im Süden Marokkos solange selbst in die 
Hand zu nehmen, bis geordnete Zustände im Lande wiedergekehrt, hätten 
aber keinesfalls die Absicht, Frankreich wegen seines Vorgehens irgend- 
welche Vorhalte zu machen. Nach Lage der Dinge könne es fraglich er- 
scheinen, ob es Frankreich möglich sein würde, zu dem status quo von 
1906 zurückzukehren. Wir seien daher eventuell bereit, mit Frankreich ge- 
meinsam einen Weg, der auch den Interessen der übrigen Signatarmächte 
entspräche, zu einer endgültigen Verständigung über die Marokkofrage zu 
suchen. Dem Wege direkter Verhandlungen dürften sich kaum unüber- 
windliche Hindernisse in den Weg stellen bei den zwischen uns und Frank- 
reich bestehenden guten Beziehungen. Der Botschafter antwortete unter 
dem 1. Juli, daß er mittags den Auftrag in Anwesenheit von Sir E. Grey 
bei Sir A. Nicolsen ausgeführt habe. Die erwähnte Mitteilung sei also 
am 1. Juli der englischen Regierung überreicht worden. Die englische 
Regierung sei danach noch vor dem Eintreffen des Schiffes über die deutschen 
Absichten genau informiert worden. 
Nunmehr hätten die deutsch-französischen Verhandlungen 
eingesetzt. Gleichzeitig aber hatten die Franzosen über die deutschen Ab- 
sichten die wildesten Nachrichten in die Presse lanziert, um gegen Deutsch- 
land Stimmung zu machen. Dies habe seinen Eindruck nicht verfehlt und 
insbesondere in London Mißtrauen gegen Deutschland hervorgerufen. Nach 
Preßnachrichten sollen damals in Paris und London gewisse Strömungen 
für Entsendung von Kriegsschiffen nach Agadir entstanden sein. Das 
würde natürlich eine sehr gespannte Situation hervorgerufen haben, bei 
der aber Deutschland, das nur von seinem guten Rechte Gebrauch gemacht 
habe, eventuell der angegriffene Teil gewesen wäre. Doch sei ein solcher 
Schritt unterblieben und die deutsch-französischen Verhandlungen in Gang 
gekommen. Es sei wiederhoft gesagt worden, wenn Deutschland von vorn- 
herein den Gedanken eines Landerwerbs in Marokko ausgeschieden hätte, 
so hätte es auch der Entsendung des Kriegsschiffs nicht bedurft. Das sei 
aber ein ganz falscher Standpunkt. Die deutsche Regierung habe mit der 
Entsendung des Kriegsschiffs gerade das erreicht, was sie habe erreichen 
wollen. Sie habe von vornherein die Absicht gehabt, sich mit Frankreich 
zu verständigen; aber wie sollte man sich über den guten Willen Frank- 
reichs Gewißheit verschaffen? Frankreich habe ja im allgemeinen aus- 
gesprochen, daß es sich verständigen wolle, dabei aber seinen Einfluß in 
Marokko immer weiter ausgedehnt. Man hätte also entweder immer wieder 
nachgeben oder schließlich ein Ultimatum stellen und eventuell den Krieg 
erklären müssen. Und wie satte man das Ultimatum fassen sollen? Hätte 
man die Zurückziehung der französischen Besatzungstruppen innerhalb einer 
bestimmten Frist verlangen sollen und eventuell in welcher Frist? Frank- 
reich hätte immer wieder den Standpunkt vertreten können, daß seine Maß- 
nahmen zurzeit erforderlich seien, später aber wieder aufgehoben werden 
könnten. In jedem Falle hätte uns eventuell der Vorwurf getroffen, eine 
Verständigung vereitelt zu haben. Es hätte uns also in erster Linie darauf 
ankommen müssen, den guten Willen der Franzosen zur Verständigung 
festzustellen, und dafür sei die Entsendung des Kriegsschiffs der beste Prüf- 
stein gewesen. 
Während der auf die Entsendung des deutschen Kriegsschiffes folgen- 
den deutsch-französischen Verhandlungen sei es nun auch zu Auseinander- 
setzungen mit der englischen Regierung gekommen. Auf die Mit- 
teilung, die der Botschafter in London gemacht hatte, sei eine Anfrage von 
 
	        
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