Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Das Dentsqe Reiqh und seine einzelnen Glieder. (März 10.) 93 
eripart geblieben. Aber diese harte Strafe für vorangegangene Zeiten des 
Stillstandes und damit des Niederganges hat läuternd gewirkt. In voller 
Schärfe war das Bewußtsein erwacht, daß ehrlos der Preuße nicht zu leben 
vermag. Nachdem die Schäden in der Organisation beseitigt waren, brannte 
das Heer darauf zu zeigen, daß sein innerer Wert nicht erstorben war, 
daß noch der alte Geist in ihm lebte, der 50 Jahre zuvor einer Welt in 
Waffen getrotzt hatte. Da brach durch Gottes Fügung der Tag der Ver- 
geltung und Reinigung von erlittener Schmach an. Preußens Aar regte 
seine Schwingen und stieg zur Sonne empor. Nach langem Bangen schlug 
die Stunde, da mein Ahnherr in den herzbewegenden Worten des Auf- 
rufes: „An Mein Volk“ den Krieg verkündete und die Landwehr aufbot. 
Im glühenden Zorn gegen den Bedrücker folgte das Volk dem Rufe seines 
Königs. Hochauf loderte die Flamme der Begeisterung, ein unversiegbarer 
Strom von Opferfreudigkeit durchflutete die Lande. Glücklich, wer König 
und Vaterland sein Gut darbringen konnte, glücklich, wer unter den Fahnen 
sich selbst ihnen weihen durfte. Die Erinnerung an solche Treue und Hin- 
gebung heute nach hundert Jahren — dem Geburtstage der unvergeßlichen 
RNönigin — wieder wachzurufen, empfinde ich als heilige Pflicht. Nicht 
siegen oder sterben, sondern siegen schlechtweg, ist die Losung in dem heiligen 
Nampfe. Gott hat seine Waffen gesegnet. Von Großgörschen über Groß- 
beeren, über die Katzbach, über Kulm-Dennewitz, Wartenburg, Möckern und 
Leipzig hat es seine Fahnen an den Rhein getragen und hinein in die 
Hauptstadt des Bedrückers. Sein Weltreich war niedergerungen. Mit nie 
erlöschender Bewunderung gedenke ich der Helden jener Tage. Ich gedenke 
Scharnhorsts, der in voller Friedensarbeit den Grundstein zur Erhebung 
Preußens, zur allgemeinen Wehrpflicht gelegt hat, der selbst aber, eines der 
edelsten Opfer der Befreiungskriege, die Früchte seiner Aussaat nicht reifen 
sehen sollte. Ich gedenke der Führer des Heeres auf seiner Siegesbahn, 
Blücher, Norck, Bülow, Gneisenau und so vieler anderer, deren Namen in 
Flammenschrift auf den Tafeln der Geschichte leuchten. Ich gedenke der 
unge zählten Opfer, die mit den Jubelrufen auf den Lippen für ihren König, 
für Ruhm und Ehre des Vaterlandes das treue Gelübde mit dem Tod be- 
siegelt haben. Ihr Gedächtnis wird nicht verlöschen, solange Preußen be- 
steht. Der Geist der Kriege des Befreiungskampfes lebte fort in Euren 
Vatern, als sie unter Meinem erhabenen Großvater den Siegespreis er- 
stritten, der jenen versagt geblieben war, die Wiedergeburt von Kaiser 
und Reich. Uns aber, dem jetzt lebenden Geschlecht, rufen die Heldentaten 
ruhmreicher Vorfahren die ernste Mahnung zu, das Dichterwort 
izu beherzigen und wahr zu machen: „Was du ererbt von deinen 
Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!“ Dann werden auch wir mit 
freudigem zuversichtlichem Herzen in den Kampf gehen, falls es einmal 
gelten sollte, das mit so teurem Blute Errungene zu wahren, Deutschlands 
Ehre zu schirmen gegen den, der sie anzutasten wagt. Dazu muß aber 
jeder an seiner Stelle dafür sorgen, daß die Armee ihre Devise nicht nur 
dußerlich, sondern vor allem im Herzen trägt: Gottesfurcht, Königstreue, 
Vaterlandsliebe in der Vollkommenheit, wie sie in den großen Zeiten be- 
wiesen worden sind, müssen das Heer unüberwindlich machen. Der Sieg 
aber kommt von Gott. Darum gelte für uns und jetzt immerdar der 
Wahrspruch der Helden der Befreiungskriege: Gott mit uns! Berlin, am 
Denkmal König Friedrich Wilhelms 1II. 10. März 1913.“ Generalfeld- 
marschall Graf v. Haeseler brachte sodann drei Hurras auf den Kaiser aus. 
10. März. (Bayern.) Die „Bayerische Staatszeitung“ teilt 
mit, Prinzregent Ludwig habe den Kaiser eingeladen, an einer
	        
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