Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

130 NBas Veutsche Reich und seine einzelnen Glieder. April 7.) 
worte suggestiv und düngen den Boden, auf dem mißleitete Volksleiden- 
schaften sich bewegen. Mit der Regierung Rußlands, unseres großen 
slawischen Nachbarreiches, stehen wir in freundschaftlichen Beziehungen. 
(Bravo.) Seit ich im Amt bin, habe ich es für meine Aufgabe angesehen, 
ein offenes und vertrauensvolles Verhältnis mit dem russischen Kabinett 
zu unterhalten, und ich habe aus dem Gang der Geschäfte und aus meinen 
persönlichen Beziehungen zu den Staatsmännern, die nach dem Willen 
Sr. Majestät des Kaisers Nikolaus die Bahnen guter Nachbarschaft mit 
Deutschland erhalten, die Ueberzeugung gewonnen, daß meine Bestrebungen 
von ihnen erwidert werden. Direkte Interessengegensätze zwischen uns und 
Rußland kenne ich nicht. Deutschland und Rußland können an ihrer wirt- 
schaftlichen und kulturellen Verstärkung arbeiten, ohne sich gegenseitig ins 
Gehege zu kommen. Gute gegenseitige Beziehungen können diese Ent- 
wicklung nur fördern. Die slawisch-germanischen Gegensätze werden nicht 
zu einem Kriege zwischen uns und Rußland führen, wir wenigstens werden 
sie nicht entfachen und auch die gegenwärtigen russischen Machthaber werden 
es nicht tun. Aber den russischen Staatsmännern sowohl wie uns ist 
es bekannt, daß die panslawistischen Strömungen, über die schon 
Bismarck geklagt hat, die schon Bismarck beunruhigt haben, durch den 
Sieg der slawischen Balkanstaaten mächtig gefördert wurden. Die bul- 
garischen Siege über die Türkei sind von diesen Kreisen zum Teil auch 
als Siege des Slawentums im Gegensatz zum Germanentum gefeiert worden. 
Ich brauche auf die erregten Auseinandersetzungen nicht hinzuweisen, die 
zwischen einem Teil der russischen und der österreichischen Presse statt- 
gefunden haben. Sie sind allgemein bekannt. In diesen leidenschaftlichen 
publizistischen Fehden klingt die Erinnerung an alle Differenzen wider, 
welche seit langen Jahrzehnten das Balkanproblem zwischen Oesterreich- 
Ungarn und Rußland hat entstehen lassen. Als treue Verbündete Oesterreich- 
Ungarns suchen wir diese Spannung zu mildern, soweit es möglich ist. 
Deshalb dürfen wir aber nicht den Kopf in den Sand stecken. Daß wir 
unsere Bündnistreue auch über die diplomatische Vermittlung hinaus be- 
wahren, brauche ich nicht zu betonen. Durch die neue und akute Belebung 
der Rasseninstinkte erhalten die durch den Balkankrieg eingetretenen 
Verschiebungen der militärpolitischen Situation eine erhöhte Bedeutung. 
Wir sind gezwungen, sie in Rechnung zu stellen, wenn wir an die Zu- 
kunft denken. 
Unsere Beziehungen zur französischen Regierung sind gut. 
Bismarck hat in seiner großen Rede vom 11. Januar 1887 das Verhältnis 
Deutschlands zu Frankreich geschildert, wie es sich aus dem Verlauf der 
Geschichte entwickelt hat und wie es durch den nationalen Charakter der 
Franzosen gestaltet wird und ebenso auch die Konsequenzen, die er daraus 
zieht. Biemarck hat damals gesagt: „Wenn die Franzosen so lange mit 
uns Frieden halten wollen, bis wir sie angreifen, dann wäre der Frieden 
ja für immer gesichert.“ Daran hat sich nichts geändert. In einem 
10jährigen Zeitraum haben wir Frankreich und der Welt auch in recht 
ernsten Augenblicken so viele Beweise davon gegeben, daß wir auch mit 
unserem westlichen Nachbar schiedlich friedlich zu leben wünschen. Diese 
unsere Wünsche brauchen auch nicht durch Worte bestärkt zu werden. 
Bismarck besorgte einen Angriff Frankreichs, sobald eine kriegerisch gesonnene 
oder durch innere Schwierigkeiten zu solchem gedrängte Regierung ans Ruder 
käme und Frankreich irgend einen Grund habe zu glauben, daß es uns 
überlegen sei, etwa bei der Ueberzeugung von der eigenen militärischen 
Stärke, die auch auf einem Bestehen von Bündnissen beruhen kann. Bismarck 
hat den Eindruck keiner dieser Eventualitäten erlebt. Ich habe allen Grund 
 
	        
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