Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

136 Das Ventsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 7.) 
weiter nichts als allgemeine Redewendungen, mit der noch jede andere 
Militärvorlage hätte begründet werden können, und wie auch jede Militär- 
vorlage begründet worden ist, mit der man ebensogut eine Forderung 
von 7000 Mann wie eine Forderung von 120000 Mann hätte begründen 
können. Die Regierung hat ihrer Vorlage die dürftigste Begründung 
gegeben. Es hat wohl nicht ein einziger zu der Ueberzeugung kommen 
können, daß die Regierung genötigt worden war, diese Vorlage einzubringen. 
Der Reichskanzler und der Kriegsminister haben bis vor kurzem nicht daran 
gedacht, diese Vorlage im Reichstage zu bringen, trotz der Vorgänge auf 
dem Balkan. Ist denn Deutschlands Lage durch den Balkankrieg verschlechtert? 
Durchaus nicht. Der Reichskanzler hat betont, daß unsere Beziehungen zu 
England gute seien. Man hat von einer Intimität zwischen der deutschen 
und der englischen Regierung gesprochen. Das ist doch keine Verschlechterung. 
Der Reichskanzler hat sich sogar zu einem Zugeständnis aufgeschwungen, 
daß der Vorschlag von Churchill ein Fortschritt sei. Wir wurden damals 
verspottet als Utopisten, und heute muß derselbe Reichskanzler das als 
einen Fortschritt ansehen. Die Behauptung, daß uns England nicht nur 
mit seiner Flotte überfallen wollte, sondern auch Landtruppen auf den 
Kontinent werfen wollte, ist verpufft. Der Minister des Auswärtigen hat 
diese Hoffnung bestimmt zerstört. Bei den früheren Erklärungen kam der 
Gedanke zum Ausdruck, wir seien wohl in der Lage, die Rüstungen einzu- 
schränken, wenn es möglich sei, eine Entspannung zwischen Deutschland 
und England zu erzielen. (Sehr richtig!) Diese Entspannung ist eingetreten 
und damit ist ein wichtiges Moment für die Rüstungsvorlage weggefallen. 
Man müßte also logisch erwarten, daß nunmehr für lange Zeit die Rüstungen 
eingestellt würden. Statt dessen erhalten wir eine ganze Heeresvorlage von 
einer Maßlosigkeit ohnegleichen. Der Militarismus hat eben eine eigen- 
tümliche Logik: das Erstarken der Balkanvölker wird als eine Schwächung 
des Dreibundes angesehen. Es wird uns ein Zusammenstoß zwischen der 
slawischen und der germanischen Welt vor Augen gehalten. Der Reichs- 
kanzler hat glauben machen wollen, die Welt sehe in der Niederlage der 
Türkei eine germanische Niederlage. Wir stehen der Behauptung skeptisch 
gegenüber, daß die Slawen einmütig gegen uns stehen würden. Die Blüte 
dieser Balkanvölker ist dahingerafft. Es sind viele Jahre erforderlich, um 
die Volkskräfte wieder zu ergänzen und die finanzielle Sicherheit wieder 
zu schaffen. Die Balkanvölker scheiden für die nächste Zeit vollkommen aus, 
weil sie erschöpft sind. Dagegen steht der Dreibund ungeschwächt da. Ob 
der Balkanbund überhaupt einmal eine einheitliche Macht werden wird, 
läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Der Balkanbund hat jetzt schon starke 
Differenzen. Serbien und Bulgarien können sich leicht nach dem Friedens- 
schluß in die Haare kommen Wie kann man da den Balkanbund gegen 
uns in Rechnung setzen? Gehören aber denn die Griechen auch zu den 
Slawen? Die werden doch nicht aus panslawistischer Begeisterung gegen 
uns marschieren. Wie der Balkanbund stehen wird im Falle eines Rrieges, 
hängt davon ab, welche Politik der Dreibund treibt. Wenn Oesterreich den 
Serben im eigenen Lande Freiheit gibt und eine freiheitliche Handels- 
politik treibt, so ist eine Verständigung zwischen Oesterreich und Serbien 
möglich. Das deutsche Volk lehnt es in seiner überwältigenden Mehrheit 
ab, in einen Krieg zu ziehen für österreichische Machtpolitiker. Die Frivo- 
lität eines solchen Unternehmens würde eine Empörung in Deutschland 
hervorrufen, die man noch niemals erlebt hat. Es ist auch nicht richtig, 
daß wir jetzt unser Heer mit Rücksicht auf Frankreich vermehren müssen. 
Die dreijährige Dienstzeit in Frankreich hat ihren Ursprung in unserer 
Oeeresvorlage. In Frankreich besteht keine Lust zu einem Kriege und zu
	        
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