Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Das Dentsqhe Reith und seine einzelnen Glieder. (April 7.) 137 
neuen Rüstungen, und erst wir haben die Franzosen dazu aufgestachelt. 
Wir haben den Chauvinismus gefördert. Chauvinisten gibt es gewiß in 
Frankreich, aber bei uns auch. Bei uns sind es die Alldentschen. Wenn 
unsere Regierung nur will, kann eine Verständigung mit Frankreich erzielt 
werden, und unsere Partei arbeitet in diesem Sinne. Unsere Parteigenossen 
haben es ja auch schon erreicht, daß in Frankreich die Vorlage über die 
dreijährige Dienstzeit hinausgeschoben worden ist. Wir protestieren ebenso 
gegen die Rüstungen wie unsere französischen Parteigenossen. Wir wollen 
ein ungestörtes Einvernehmen zwischen beiden Völkern. An dieser Massen- 
bewegung müssen die gegenwärtigen imperialistischen Umtriebe abprallen. 
Der Reichskanzler sagt, die Regierung sei friedlich und gerade in demo- 
kratisch regierten Ländern arbeiteten die Minderheiten chauvinistisch. Der 
Reichskanzler kennt die Oeffentlichkeit nicht. Die Militärvorlage ist die 
Arbeit des Wehrvereins und der Hetzer. Unsere Hetzarbeit hat in 
Frankreich Gegenströmungen gezeitigt. General Bernhardi hat das Hetze- 
rischste geschrieben, das überhaupt zu schreiben möglich war, als er von 
der Niederwerfung Frankreichs durch Deutschland sprach. Der Reichskanzler 
sollte gegen diese Hetzer im eigenen Lande vorgehen, wenn er, was ich nicht 
bezweifle, ehrlich friedensliebend ist. Auch der Kriegsartikel der „Kölnischen 
Zeitung“ hat die Franzosen aufgeregt. In Frankreich ist man absolut 
friedlich gestimmt. Aufs neue beweist dies auch wieder der Unfall des 
„Zeppelin“ und was mit ihm zusammenhängt. Ein französisches Komitee 
hat sich gebildet, um deutsche und französische Politiker und Parlamentarier 
friedlich zu gemeinsamer Besprechung gemeinsamer Fragen zu vereinen. 
Es wäre eine Lächerlichkeit und eine Frivolität, wenn wegen des Wider- 
standes Montenegros die traurigen Folgen eines Weltkrieges kommen sollten. 
Man kann uns nicht weismachen, daß von Rußland her die Gefahren eines 
Angriffskrieges gegen uns drohen. Von den panflawistischen Strömungen gilt 
das gleiche, was von den chauvinistischen Strömungen zu sagen ist. Die 
Arbeiter Rußlands sind die schärfsten Gegner des Panflawismus und ver- 
urteilen einen Krieg gegen Oesterreich ebenso wie einen solchen gegen 
Deutschland. Rußland betreibt gegenwärtig im Osten, in der Mongolei, 
aktive Politik. Der mongolisch-tibetanische Vertrag hat bereits Reibungs- 
flächen zwischen den beiden Ländern geschaffen. In China erwächst Rußland 
ein Gegner. China hat in Japan einen Freund gefunden und beide werden 
Rußland gefährlich werden können. Die russischen Arbeiter haben ganz 
andere Sorgen als Kriegsgelüste. Sie haben sich gegen die Reaktion im 
Innern zu wehren. Aus dem blutgedüngten Boden Rußlands erwachsen 
immer neue Streiter für die Volksfreiheit und gegen die Abenteurerpolitik. 
Die russische Regierung müßte mit Blindheit geschlagen sein, wollte sie die 
Erfahrungen des russisch-japanischen Krieges nicht verwerten. Die innere 
Lage rechtfertigt also in keiner Weise die Heeresvorlage. 
Wir rüsten nicht für den Schutz unserer Grenzen, sondern zur Ein- 
schüchterung der anderen, zur Förderung der Eroberungsgelüste unserer 
Imperialisten. Deshalb die Forderung, die aggressive Kraft des Heeres zu 
stärken. Der Kriegsminister erklärte im vorigen Jahre, wir seien voll- 
kommen gerüstet und Deutschlands Weltstellung sei gesichert. Was vor 
einem Jahre voll garantiert wurde, soll also nun alles wertlos sein? Am 
17. Dezember 1912 versicherte die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“", daß 
in dem Nachtragsetat des Reichstags nur um Förderung von Luftschiffen 
und Flugzeugen gebeten werde, andere Forderungen würden nicht an den 
Reichstag kommen. Das war eine klare, präzise Zusicherung. Ich nehme 
nicht an, daß die Regierung damals das deutsche Volk hat täuschen 
wollen. Und noch am 10. Januar erklärte man an zuständiger Stelle im
	        
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