Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

138 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 7.) 
Kriegsministerium eine Meldung als Erfindung, daß neue Militärforde- 
rungen kämen. Also selbst damals wollte der Kriegsminister die Forderungen 
noch nicht einbringen. Man sage uns also nicht, daß die Vorgänge auf 
dem Balkan zur Vorlage geführt hätten. Der Kriegsminister hat die Segel 
vor dem Wehrverein gestrichen, als der Kaiser zugunsten des Wehrvereins 
entschieden hatte. (Der Reichskanzler schüttelt mit dem Kopf.) Damit fallen 
die Ausführungen des Reichskanzlers in nichts zusammen. Der Kriegs- 
minister hat heute rein nichts gesagt; so unzulänglich hat noch niemand 
hier gesprochen und eine Begründung zu geben versucht. Früher erklärte 
der Kriegsminister bei Heeresverstärkungen, sie sind ein Produkt jahrelanger 
Arbeit. Diesmal konnte er das nicht sagen. Hinter den Nationalliberalen, 
die für die Vorlage sind, stehen die Großindustriellen, die den Profit von 
der Sache haben werden. Auch innerpolitische Gründe sind für die Vor- 
lage maßgebend gewesen. Die jungen Leute sollen, sowie sie ins wehr- 
fähige Alter kommen, in die Kasernen gesteckt werden: sie sollen aus der 
freien Luft heraus. (Gelächter.) Wenn der heimatliche Boden verteidigt 
werden soll, dann ist die Militärvorlage und der Militarismus nicht nötig, 
sondern nur vom Uebel. Lernen Sie aus dem Jahre 1813, wo das Volk, 
nicht die Junker und Adligen die Befreiung vollendet haben. Ein russischer 
Kriegsminister hatte das bestätigt. (Herr Ledebour ruft: Das kommt heute 
nicht mehr vor! Große. Heiterkeit.) Es ist ihm auch damals nicht gut 
bekommen; er wurde in die Wüste geschickt. Wir wollen das Vaterland 
nicht wehrlos machen, wir wollen aber ein tüchtiges Milizheer, nicht 
etwa nur eine sklavische Nachahmung des schweizerischen Heeres, obgleich 
dort die Manöver gerade von unserer militärischen Seite aus sehr gelobt 
worden sind. In welch enorm kurzer Zeit werden dort die Soldaten aus- 
gebildet! Und bei uns soll die zwei- bis dreijährige Dienstzeit nötig sein? 
Das Wort: Auf Vater und Mutter muß geschossen werden, dieses Wort 
hat die deutschen Arbeiter von Grund aus aufgewühlt und hat ihnen den 
blinden Gehorsam des Militarismus klar gemacht. Die Aufrechterhaltung 
des Instituts des Einjährig-Freiwilligen beweist, daß es der zwei= und 
dreijährigen Dienstzeit nicht bedarf. Das hat auch der General Häusler 
vom Zentrum zugegeben. Freilich auf den Paradedrill wird man ver- 
zichten müssen. Durch diese Vorlage kommen auch Scharen bedingt Tauglicher 
aus den Großstädten in die Kasernen. Glauben Sie, daß diese Scharen 
dort ihre bisherige Anschauung aufgeben und verlernen werden? Wenn 
wir alle Tauglichen weiter einstellen, dann müssen wir notgedrungen zu 
einem anderen System kommen. Früher hieß es, es komme weniger auf 
die Zahl als auf den Geist der Truppen an, und jetzt soll die Quantität 
entscheiden. Das muß schließlich zur Miliz führen. Und nun die Kosten- 
deckung, die nichts weniger als eine Besteuerung des Besitzes ist. Jede 
Rüstung soll dem Frieden dienen, aber sic stärkt das Mißtrauen der anderen. 
Nicht wegen der Rüstungen, sondern trotz der Rüstungen ist der Frieden 
erhalten geblieben. Von Wohlleben und Luxus, die ein Volk zugrunde 
richten sollen, haben wir wenigstens im deutschen Volke noch nichts gemerkt. 
Die Tüchtigkeit zum Kriege ist auch nicht der einzige Maßstab für die 
moralische Kraft des Volkes, sondern vielmehr seine Leistungen auf dem 
Gebiete der Kultur. Sorgen Sie dafür, daß die Massen des Volkes wirt. 
schaftlich besser gestellt werden, machen Sie eine bessere Arbeiterschutzgesetz- 
gebung. Wir stehen der Wehrvorlage gegenüber in dem Geiste Fichtes, der 
die Freiheit und Gleichheit forderte. 
Abg. Spahn (Z.): Wenn wir die Marine miteinrechnen, so kommen 
wir zu einer Verstärkung unserer Wehrkraft zu Wasser und zu Lande 
auf nahezu 900000 Mann. Diese Vermehrung der persönlichen und der
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.