Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Das Dentsqhe Reich und seine einzelnen Glieder. (April 7.) 141 
die Vorlage hineinleuchte, keinen Grund zu Abstrichen gefunden habe. Ich 
erkläre deshalb im Namen meiner politischen Freunde, daß wir die Vor- 
lage annehmen werden. Zum Schluß bitte ich noch um die Erlaubnis, in 
bezug auf die politischen Verhältnisse, die die Wehrvorlage begründen, einen 
Politiker zitieren zu dürfen, den ich noch nie zitiert habe, der aber nicht 
nur hier im Hause, sondern weithin einen großen politischen Ruf wegen 
seines Scharfblicks besessen hat, den Zentrumsführer Exzellenz Windthorst. 
Der hat während des früheren Balkankrieges, also vor 30 Jahren, während 
des Plewnakrieges, den Ausspruch getan: „In dem Balkanstreit handelt es 
sich um die große und für alle Zukunft bedeutsame Frage, ob das germa- 
nische oder das slawische Element die Welt beherrschen soll, und das ger- 
manische Interesse drückt sich in dem Interesse Oesterreichs aus.“ Ich glaube, 
das ist heute noch Wort für Wort maßgebend, und demgegenüber wollen 
wir uns doch orientieren und das bewilligen, was zur Rüstung unseres 
Volkes notwendig ist. 
Abg. Behrens (W. V.): Das Ausland kann unseres Erachtens 
aus der Verstärkung unserer Wehrmacht zweifellos auch keine Angriffs- 
absichten herauslesen. Das Deutsche Reich hat seit 42 Jahren keinen 
Krieg geführt. Damit ist trotz unserer guten und vortrefflichen Rüstung 
der Beweis für unsere Friedensliebe erbracht. Interessant ist, daß sich ein 
Mitglied dieses Hauses, das in den Bänken der Sozialdemokraten sitzt, in 
den letzten Wochen diese Feststellung in Frankreich gelegentlich einer soziali- 
stischen Veranstaltung von einem Franzosen sagen lassen mußte. Ich meine, 
diese Stimme eines Franzosen sollte auch für die äußerste Linke im Deutschen 
Reichstag von Gewicht sein. Ich sagte: unsere Friedensliebe ist durch die 
letzten 42 Jahre verbürgt. Trotzdem, ich möchte sagen, gerade deshalb, 
weil wir während dieser Zeit eine gute schlagfertige Rüstung trugen, haben 
wir in der Zeit dieses langen Friedens unsere innere Kultur, unsere hei- 
mische Wirtschaft, unsere nationale Wohlfahrt zur erfreulichen Ent- 
wicklung bringen können. Wir stehen im Anteil an dem Welthandel an 
zweiter Stelle, unsere industrielle Entwicklung ist so hervorragend, daß wir 
das Unbehagen der Konkurrenzvölker und ihrer Industrien auf dem Welt- 
markt hervorrufen. Mehr denn 12 Millionen Deutsche — und davon ist 
der allergrößte Teil Arbeiter mit ihren Angehörigen — ernähren sich in 
Deutschland durch die Verarbeitung von Rohstoffen aus dem Auslande und 
arbeiten für den Weltmarkt. Dadurch aber ist das deutsche Wirtschafts- 
interesse und mit ihm das Interesse vieler Millionen deutscher Arbeiter un- 
löslich mit den Vorgängen in aller Welt verbunden. Der Balkankrieg hat 
den deutschen Arbeitern sowohl in den entferntesten Dörfern des Spessarts 
und anderen entlegenen Gegenden als auch im Sieg= und Lahngebiet, von 
wo mir Zuschriften und Mitteilungen zugingen, und anderen Industrie- 
gebieten, auch der Großstädte, Arbeitsstörungen, Arbeitslosigkeit, Feierschichten 
und Lohndruck gebracht. Das ist der beste Beweis dafür, wie eng unser 
Wirtschaftsleben mit den politischen und anderen Vorgängen in der fernen 
Welt verbunden ist, und darum sind auch die politischen Vorgänge, die sich 
in Marokko, Südamerika, Persien, Asien und sonstwo in der Welt abspielen, 
solcher Art, daß sie das deutsche Erwerbsleben und die Interessen der deut- 
schen Arbeiter aufs engste berühren. Die Zeit ist endgültig vorbei, daß es 
uns nichts anging, wie ein Dichter sagt, wenn dahinten in der Türkei die 
Völker aufeinanderschlagen; jetzt geht's uns und auch unsere deutschen Ar- 
beiter an, wie sich die politischen Vorgänge in der Welt abspielen. Soll 
aber das Deutsche Reich bei allen politischen und wirtschaftlichen Vorgängen 
in der Welt, die deutsche, nationale und Wirtschaftsinteressen berühren, die 
deutschen Interessen wahren, dann muß es stark genug sein, daß sein Wort
	        
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