Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

144 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 8.) 
müssen uns auf die Möglichkeit rüsten, daß das Slawentum gegen das 
Germanentum vorgehen könnte, und es kann uns niemand verdenken, wenn 
wir unsere Grenzen nach Osten stärker schützen. (Sehr richtig!) Wir müssen 
auf der Hut sein und dürfen das panslawistische Element nicht zu gering ein- 
schätzen. Ebenso dürfen wir nicht achtlos vorübergehen an dem Chauvinis- 
mus in Frankreich. Die französischen Diplomaten werden den Chauvinis- 
mus auch nicht aufhalten können. Sonst müßte man doch eine Wirkung 
davon verspüren. Wir haben Frankreich gegenüber seit über 40 Jahren 
immer eine friedliche, ruhige Politik getrieben. Wir haben die Ruhe be- 
wahrt auch in den Zeiten Delcassbs. In unserer Politik liegt also kein un- 
freundliches Moment für die Franzosen. Niemand in Deutschland denkt 
daran, französische Gebietsteile zu erobern. Die nationalistische Bewegung 
in Frankreich ist trotzdem gewachsen, namentlich seit den Marokko-Vorgängen. 
Man hatte gehofft, eine Versöhnung mit Frankreich erzielen zu können durch 
die Beseitigung des Marokko-Konflikts. Das Gegenteil ist eingetreten. Wir 
haben auch die Franzosen nicht veranlaßt zu der Wiedereinführung der 
dreijährigen Dienstzeit. 
Ein Grund der Verschlechterung der internationalen Lage liegt in 
dem Imperialismus. Mit der Wende des Jahrhunderts setzt diese Be- 
wegung in den Völkern besonders stark ein. Wirtschaftliche Gründe, in 
vielen Ländern die starke Bevölkerungszunahme drängen dazu, Betätigung 
auf überseeischem Gebiet zu suchen, und da dieser imperialistische Zug unserer 
Zeit gleichzeitig bei vielen Bölkern auftritt, gibt er der Zeit die Signatur. 
Daß diese imperialistischen Bewegungen nichts zu tun haben mit dynastischen 
Interessen, Cäsarenwahn und mit dem Ehrgeiz und Wunsch der Herrscher, 
ihr Gebiet zu erweitern, ist erwiesen; denn diese imperialistischen Bewegungen 
gehen durch alle Länder, ganz einerlei, welche Regierungsform sie haben; 
sie entspringen dem gewaltigen Expansionsbedürfnis der Völker und Rassen. 
Sie sehen die starke imperialistische Bewegung in Rußland, einem autokratisch 
regierten Staat mit den Anfängen konstitutionellen Lebens in der Duma: 
Sie sehen, wie Rußland in Asien großzügig seine imperialistische Politik, 
welche die Aufteilung des großen chinesischen Reichs in die Wege leitet, 
weiterführt. Ich will den Gedanken nicht weiter ausspinnen; wir haben 
uns jüngst in der Budgetkommission eingehend über diese gewaltigen Vor- 
gänge unterhalten. Sie sehen dieselbe Bewegung in Frankreich, einer radikal- 
sozialistischen Republik, und in dieser Republik tritt diese Bewegung in dem 
Augenblick ein, in dem Frankreich an Rußland einen Rückhalt durch das 
Bündnis hat. Mit einer bewundernswerten Energie setzt in Frankreich eine 
großzügige Kolonialpolitik ein, die sich in Asien und vor allem in dem 
afrikanischen Weltteil betätigt und der französischen Republik immer neue 
Länder und Gebiete angliedert, für uns auch mit dem unangenehmen Bei- 
geschmack — obgleich das erst mit Spott ausgenommen wurde —, daß neue 
Militärreservoire für Frankreich damit eröffnet werden. Es ist eine erstaun- 
liche Energie, die Frankreich gerade auf diesem Gebiet der kolonialen Er- 
weiterungen entfaltet hat. Sie sehen es in dem alten Kolonialland Eng- 
land, wie England auf jeden freien Fleck der Erde heute Anspruch erhebt, 
in seinen alten Traditionen weiter wandelt und eine großartige koloniale 
Eroberungspolitik in aller Welt macht. Das sind Staaten des verschiedensten 
Systems — England ein parlamentarisch regiertes Land —, und alle sind 
ergriffen von diesem großen imperialistischen Zug, der in seinen Folgen 
dahin führt, neue Reibungsflächen zwischen den Staaten zu schaffen, und 
die Staaten auch dahin treibt, ihre Machtmittel zu verstärken. In ganz 
anderer Weise, als das vor Jahrhunderten der Fall war, tritt die Staats- 
macht als gewaltiger Faktor in den Vordergrund: die Staatsmacht, die sich
	        
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