Das Beuische Reich und seine einzelnen Glieder. (April 8.) 145
in der Schaffung immer größerer Kriegsflotten und stärkerer Heere die
Unterlagen für die Durchsetzung einer großen imperialistischen Politik zu
schaffen sucht. Einerlei, wohin Sie sehen, — in allen Weltteilen finden
Sie diese Entfaltung. Wir haben als verhältnismäßig junger Staat in
diesem Wettlauf um die noch freien Gebiete schlecht abgeschnitten; unsere
Bilanz ist keine aktive. Bei uns sind die Neuerwerbungen nur mäßig ge-
wachsen. Wir haben spät mit Kolonialpolitik angefangen: in den letzten
Jahren der Bismarckischen Verwaltung. Wir haben in der Periode des
Fürsten Bülow Kiautschou und die Südseeinseln erworben, um dann am
Kongo zu endigen. Aber gewachsen sind bei uns weit über die kühnsten
Erwartungen hinaus die Konten für Soldaten und Steuern, und dann sind
wir besonders stark in die imperialistische Bewegung hineingezogen worden.
Ich meine: auch hierin liegt ja ein Konfliktsstoff; auch hierin liegt ein
Moment, das wir nicht übersehen dürfen. Fürst Bülow hat in zwei Reden
darauf hingewiesen, daß für uns eine Politik unerträglich sein würde, die
uns einkreist und uns lahmlegt. Fürst Bülow hat im Jahre 1908 hier
ausgesprochen: Eine Politik, die darauf ausginge, Deutschland einzukreisen,
einen Kreis von Mächten um Deutschland zu bilden, um es zu isolieren
und lahmzulegen, wäre eine für den europäischen Frieden bedenkliche Politik.
Druck erzeugt Gegendruck, und Druck und Gegendruck erzeugen Explosionen.
Eine Politik, die uns überall die Türe verschließt, können wir nicht er-
tragen. Ich finde, daß für diese Gedankengänge schließlich auch im sozial-
demokratischen Lager wachsendes Verständnis vorhanden ist, zunächst aller-
dings nur in den roten „Sozialistischen Monatsheften“", von denen Sie
ezu den Sd.) ja nicht sehr gern erzählen hören. Ich habe von dem früheren
Reichstagskollegen Schippel dort Aufsätze gefunden, in denen er sehr ver-
ständige Ausführungen über Kolonialpolitik macht und sagt: Die Frage ist
schließlich nur so zu stellen: Kolonialprodukte brauchen wir; es ist nur die
Frage für uns, ob sie aus deutschen Kolonien kommen oder aus englischen,
französschen, belgischen, und da ist es besser, daß sie aus deutschen Kolonien
ommen
Das Resultat dieser Betrachtungen ist, daß die Reibungsflächen sehr
vermehrt sind, und daß die Kriegsgefahr in den letzten Jahren eine per-
manente geworden ist. Wir haben zweimal die starken Friedensbeunruhi-
gungen gehabt, die sich an Marokko anknüpften: einmal im Jahre 1905
die Periode, die dadurch eine friedliche Wendung bekam, daß das Mini-
sterium Rouvier den Minister des Auswärtigen Delcasss ehen ließ, und
dann die Konferenz von Algeciras recht und schlecht die Dinge zu ordnen
suchte, und dann die vorhin von mir berührten Vorgänge von Agadir.
Dann aber zwei weitere Krisen, die sich an den Balkan anknüpfen. Ein-
mal das Jahr 1908, der 5. Oktober, jener Tag, an dem Bosnien und die
Lerzegowina der österreichisch-ungarischen Monarchie angegliedert wurden;
und der heutige Balkankrieg. In einem bin ich mit dem Kollegen Haase,
aber auch mit dem Herrn Reichskanzler, vollständig einverstanden. Auch
meine politischen Freunde begrüßen die Besserung der Beziehungen
zu England; und wenn England gerade in der langen Phase der Balkan-
wirren und der Balkanverhandlungen die Erkenntnis gewonnen hat, daß
die deutsche Politik friedlich orientiert ist, daß wir nicht daran denken, aus
solchem bis jetzt lokalisiert gebliebenen Kriege — in einer Zeit, in der für
die deutsche Politik die Kriegsaussichten günstig liegen — einen Weltbrand
zu entfesseln, sondern daß wir bemüht sind, mit England zusammen für die
Aufrechterhaltung des Weltfriedens zu sorgen, so läge darin in der Tat
eine gesunde und richtige Unterlage für die dauernde Besserung der Be-
ziehungen zwischen Deutschland und England. Niemand in Deutschland
Europäischer Geschichtskalender. LIV. 10