Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

150 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 8.) 
Sozialdemokratie die Agitation so leicht? Wie wäre es denn auch, wenn 
in so ernsten Zeiten die Städte das Geld für Fürstenempfänge usw. 
zur Kriegssteuer beisteuern würden? Es würde in weiten Kreisen mit Jubel 
aufgenommen werden, wenn dieses sinnlose Hinauswerfen des Geldes, das 
dem einfachen Sinn der Männer des Jahres 1813 schnurstracks widerspricht, 
vom obersten Kriegsherrn ernstlich verboten würde. Ich glaube, daß die 
anderen Fürsten sehr gern nachfolgen würden. Es kommt ja alles bloß 
auf das gute Beispiel an. Im Laufe des Jahres könnten Hunderttausende 
für solche höfischen und zöpfischen Geschichten erspart werden, die für alle 
Beteiligten eine Qual und eine Last sind und oft zu unerquicklichen Aus- 
einandersetzungen führen, die mit Königstreue und monarchischem Sinn sehr 
wenig zu tun haben. Beherrscht ist diese ganze Vorlage von der aus- 
gesprochenen rage du nombre. Kein Wort von einer inneren Reform. 
Und doch war es der Herr Kriegsminister von Heeringen, der im vorigen 
Jahre selbst vor dieser Zahlenwut gewarnt, der gesagt hat, der Geist der 
Armee macht es aus. Und gestern hat der Reichskanzler dasselbe gesagt. 
Ja, wir haben den Standpunkt stets vertreten, daß in erster Linie die 
körperliche, die geistige, die moralische und auch die wirtschaftliche und finanz. 
politische Leistungsfähigkeit des Volkes die Krast desselben ausmacht, und 
daß vor allen Dingen auf Qualität, nicht auf Quantität gesehen werden muß. 
Kriegsminister v. Heeringen: Der Herr Abgeordnete Dr. Müller hat 
gesagt, die Militärverwaltung hätte sich von den Ereignissen auf dem Ballan 
überraschen lassen. Das ist durchaus richtig, das ist aber sehr vielen Leuten 
ebenso gegangen, auch im Auslande, und vielleicht auch manchem der Herren 
Abgeordneten. Wenn der Herr Abgeordnete weiter gesagt hat, daß die 
Heeresvorlage eigentlich das Ergebnis einer Diplomatie wäre, die seinen 
Wünschen nicht entspräche, so hat er mit diesen beiden Momenten von seinem 
Standpunkt aus die beste Begründung der Heeresvorlage gegeben; denn 
wenn man sich von den Ereignissen auf dem Balkan überraschen ließ, dann 
ist eben eine neue Situation eingetreten, und ebenso ist es, wenn die Heeres- 
vorlage nur das Ergebnis einer Diplomatie ist, die seinen Wünschen nicht 
entspricht. Ich habe im Jahre 1911 ausdrücklich hervorgehoben, daß die 
damalige Heeresvorlage nur die dringendsten Lücken des Heeres füllte, und 
auch im Jahre 1912 habe ich an keiner Stelle betont, daß nunmehr für 
alle Zeiten die Wünsche der Heeresverwaltung erfüllt seien. So etwas kann 
überhaupt niemand sagen, denn eine Militärvorlage ist stets das Ergebnis 
der jeweiligen Verhältnisse, der politischen, der militärischen und der finan- 
ziellen. Wenn die militärischen Verhällnisse sich derartig ändern, wie es 
tatsächlich seit 1912 der Fall gewesen ist, so würde es von der Militär- 
verwaltung ein Verbrechen gegen das Vaterland gewesen sein, wenn sie die 
Konsequenzen daraus nicht gezogen hätte. 
      Abg. Seyda (P..u: Der Herr Reichskanzler hat die Notwendigkeit 
der gegenwärtigen Wehrvorlage namentlich mit den Veränderungen be- 
gründet, die in den politischen Verhältnissen auf der Balkanhalbinsel 
eingetreten sind. Man wird mit dem Schicksal, das die Türkei betroffen 
hat, vom menschlichen und völkerpsychologischen Standpunkt aus Mitgefühl 
haben. Speziell gilt dies von der polnischen Nation. Meine Herren, die 
polnische Nation hat nicht vergessen, daß einstmals die Türkei der einzige 
Staat gewesen ist, der die Teilung Polens offiziell nicht anerkannt hat. 
Sie hat auch nicht vergessen, daß die Türkei im Laufe des 19. Jahr- 
hunderts vielen Polen, die als politisch Verfolgte heimatlos in Europa 
umherirrten, Gastfreundschaft und eine neue Heimat gewährt hat. Aber 
andererseits ist doch nicht zu leugnen, daß dieselbe Türkei ihre christliche 
und namentlich ihre Slawische Bevölkerung jahrhundertelang aufs schwerste
	        
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