152 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 8.)
Hinweis auf die Serben und Bulgaren in Angst und Schrecken versetzen
können. Wenn sie etwa wie bei früheren Gelegenheiten Bilderbogen ver-
breiten wollen, auf denen dargestellt wird, wie ein serbischer Soldat dem
deutschen Bauern die letzte Kuh aus dem Stalle holt — kein Mensch würde
jetzt auf derartigen Schwindel hineinfallen. Aber gerade deshalb, weil
man weiß, daß mit dem Balkangespenst nichts zu machen ist, holt man das
altbewährte Gespenst des „Erbfeindes“ wieder hervor. Der böse Franzose
muß wieder aufmarschieren, der in gewissenlosen Hetzschriften geschildert
wird, als sinne er Tag und Nacht nur darüber nach, wie er am schnellsten
und besten über Deutschland herfallen und gründliche Rache nehmen könne.
Weiter läßt man die russisch-panslawistische Gefahr aufmarschieren
und spricht von einem möglichen Zusammenstoß zwischen Germanentum
und Slawentum. Hier muß ich mich mit einigen Worten an den Herrn
Reichskanzler wenden. Daß der Herr Reichskanzler das verhängnisvolle
Wort — wenn auch nur in hypothetischer Form — gebrauchen konnte, das
ist mir unbegreiflich. Ich habe das Gefühl, daß man in Wien auf dem
Ballplatz und in der Hofburg sich die Haare hat raufen müssen, als man
diese Wendungen des Herrn Reichskanzlers gelesen hat. Ich nehme an,
daß auch der Herr Reichskanzler nicht an den deutschen Arbeiter gedacht
hat, als er in seiner Begründung der Vorlage von Luxus und Wohlleben
sprach, sondern an die Kreise, die ihren Lebenszweck verfehlt sehen, weil
es nicht zur Menschenschlächterei gekommen ist. Wenn Mut, Tapferkeit und
Todesverachtung Tugenden sind, die der Krieg bei dem Soldaten entwickelt,
dann lassen Sie sich sagen, daß diese Tugenden der deutsche Arbeiter
Tag für Tag bekundet und bekunden muß. Wissen Sie nicht, daß der
deutsche Arbeiter Tag für Tag nicht nur einen nervenzerrüttenden Krieg
mit erbärmlichem Kleinkram führen muß, mit Schikanebestimmungen, die
ihm das Leben schwer machen sollen, mit Unternehmerterrorismus, mit
Polizei, Behörden, Gerichten? Daß der deutsche Arbeiter Tag für Tag
den schweren Kampf um das nackte Dasein für sich und seine Familie
führen muß? Daß Hunderttausende der deutschen Arbeiter Tag für Tag
Leben und Gesundheit im Dienste des Kapitalismus in die Schanzen
schlagen müssen? (Sehr richtig!" bei den Sd.) In der Schlacht bei Sedan
sind 3022 Mann gefallen, 5900 Verwundete wurden gezählt. Der ganze
siebziger Krieg hat 40080 Tote und 83373 Verwundete gekostet. Gewiß,
dieser Krieg hat dem deutschen Volke furchtbar schwere Opfer auferlegt.
Haben Sie aber auch im Gedächtnis, wie täglich das Schlachtfeld der Arbeit
ungeheure Opfer fordert? Ich will Ihnen wenige Zahlen ins Gedächtnis
zurückrufen. Ich hoffe, daß Sie dann nicht mehr reden werden, das
arbeitende Volk werde verweichlicht, nicht zu Mut, Todesverachtung und
Tapferkeit erzogen. In den letzten 12 Jahren von 1900 bis 1911 sind
auf dem deutschen Schlachtfelde der Arbeit 1585000 deutsche Arbeiter so
schwer verwundet worden, daß sie mehr als 13 Wochen krank darnieder
liegen mußten. Unter diesen mehr als 112 Millionen verwundeter deutscher
Arbeiter befinden sich Tausende, die für ihr ganzes Leben zu Krüppeln
geworden sind. In diesen 12 Jahren sind 107566 deutsche Arbeiter auf
dem Schlachtfelde der Arbeit getötet (hört! hört! bei den Sd.), ihren Frauen
und Rindern entrissen worden. Einer Arbeiterschaft, die Tag für Tag in
dieser Weise dem Tod ins Auge zu schauen weiß, die heldenmütig gekämpft
hat und weiter kämpfen wird bei allen schweren Unglücksfällen unter und
über Tag, die in den Steinbrüchen, in der Eisenindustrie, in den Berg-
werken, im Verkehrsgewerbe usw. Tag für Tag den schwersten Gefahren
ausgesetzt ist — einer solchen Arbeiterschaft gegenüber soll man nicht sagen,
sie werde verweichlicht, sie werde entnervt.