Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

158 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 9.) 
testiert dagegen und will auch nicht, daß die elsässische Frage je einen An- 
laß dazu gebe. Nur verbrecherischer Egoismus kann eine Aenderung des 
Frankfurter Friedens herbeiführen wollen. An dieser Protesterhebung haben 
sich alle Kreise der elsässischen Bevölkerung beteiligt, auch die nationalistischen. 
Wir wollen keine Hetzereien, weder von französischer, noch von deutscher 
Seite, denn wir treten ein für die Versöhnung der beiden Nationen. Scheitert 
diese Vorlage, so scheitert auch die dreijährige Dienstzeit in Frankreich. 
Wir brauchen keine Vermehrung des Heeres, wenn die Diplomatie ver- 
ständig arbeitet. Der Friedenswille Europas ist seit dem Manifest des 
Zaren gewachsen, und man soll versuchen, eine friedliche Verständigung der 
Völker zur Herabsetzung der Rüstungen herbeizuführen. 
     Abg. Werner (Rfp.): Gerade Elsaß-Lothringen hat ein Interesse 
an einer starken Militärmacht des Reiches. Dient das Vorgehen des Herrn 
Wetterlé dem Frieden? Die Vorlage ist notwendig um des Friedens willen. 
Was in den Zeitungen über die Entstehung der Vorlage geschrieben worden 
ist, soll man nicht alles glauben. Die Macht der Sozialdemokratie soll 
Herr Scheidemann nicht überschätzen. Ich erinnere nur an die Haltung 
des ihr nahestehenden französischen Kriegsministers Millerand. Seldbst die 
friedliebendste Regierung in Frankreich muß mit der Volksstimmung rechnen, 
und daher müssen wir uns beizeiten vorsehen. Wie in Frankreich die 
Stimmung ist, das hat sich beim Verhalten der Bevölkerung und der Sol- 
daten bei der Landung des Zeppelinluftschiffes in Lunêville gezeigt. Wir 
sind ein Volk des Friedens, aber wir wollen auch unser Ansehen in der 
Welt wahren. 
      Abg. Frank (Sd.): Noch vor wenigen Monaten hat der Kriegs- 
minister die ruhige, ege Entwicklung als sein Ziel bezeichnet, und jetzt 
bekommen wir diese Vorlage, deren Grundsätze das Gegenteil bekunden. 
Das ist etwas viel für den Deutschen Reichstag. Der Reichskanzler hat 
eine Rede gehalten, in der er seine Friedensliebe betont und sich nach allen 
Himmelsrichtungen verbeugt hat wie ein Türke beim Gebet. Aber der 
Reichskanzler soll heute ein Problem lösen, das unlösbar ist. Diese Vor- 
lage, die nach Entstehung und Inhalt provokatorisch ist, kann man eben 
nicht so begründen, daß sie nicht provozierend wirtt. Wenn ein Bauern- 
bursche am Tisch sein Messer schleift und nach dem Nachbartische ruft, er 
habe friedliche Absichten, so wird man auch dort zu schleisen anfangen. 
Ernste Männer behaupten, wir hätten diese Vorlage nicht bekommen, wenn 
wir die Jubiläumsfeier nicht hätten. Wir denken nicht daran, den Reichs- 
kan zler mit dem Freiherrn v. Stein zu vergleichen, und Herr v. Heeringen 
wird sich nicht mit Scharnhorst vergleichen wollen. Wenn wir verglichen, 
kämen wir nur in Verlegenheit, wer jetzt der Napoleon sei; es könnte nur 
Peter von Serbien oder Fürst Nikita sein! Wie stellen sich unsere öster- 
reichischen Verbündeten zu der Frage, ob sie stark genug sind, der süd- 
slawischen Gefahr zu widerstehen? In der Danzerschen Militärzeitung 
wurde dort gesagt, die Kräfte Bulgariens seien durch Rumänien festgehalten, 
gegen Serbien und Montenegro würden aber zwei Armeekorps zur Ver- 
teidigung ausreichen. Die Heeresstärke verschiedener Länder ist schwer zu 
vergleichen. Bei der russischen Streitkraft sind aber zehn Armeekorps ab- 
zuziehen, die gegen den Osten festgehalten sind. Neuerdings ist die chinesische 
Republik gegründet worden, und ich hoffe, daß Deutschland sie bald an- 
erkennen wird. Hoffentlich wird sie sich so entwickeln, daß Rußland mehr, als 
ihm lieb ist, damit zu rechnen hat. Etwa 300000 russische Arbeiter werden 
im Frieden in Preußen beschäftigt. Glaubt man wirklich, die preußische 
Regierung — ich traue ihr sonst manche Dummheit zu — werde diese 
3000000 Reservisten im Ernstfalle nach Hause lassen? Wenn es möglich
	        
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