Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 10.) 167 
Besitzes und des Kapitals bei unserem wirtschaftlichen Aufschwung ist 
so ungleich gewesen, daß die eigentliche Armut bei uns nicht abgenommen, 
sondern eher zugenommen hat. Der Abstand zwischen Reichtum und Armut 
ist größer geworden. Vor der Fülle des Elends, das aus den Armen- 
inspektions-Berichten spricht, muß man schaudernd zurückschrecken. In einem 
Bericht des Sozialen Museums in Frankfurt heißt es, daß ordentlich 
arbeitende und stets beschäftigte Arbeiter mit ihren Familien Armenunter- 
stutzungen nehmen müssen, weil sie nicht auskommen und den hohen Zins 
der Miete nicht bezahlen können. Denken Sie an die rechtlichen und mora- 
lischen Folgen dieser Tatsache! Nicht abgenommen hat die Kinderarbeit, 
zugenommen hat die Frauenarbeit. Wenn die Militärangehörigen mit etwas 
Freude an die Kaserne zurückdenken und wenn selbst unser Militärdienst 
die Leute mit Freude an diese Jahre zurückdenken läßt, dann spricht das 
das härteste Urteil über unsere wirtschaftlichen Zustände aus! Nicht aus 
Luxus und Wohlleben verfällt unser Volksleben, sondern wegen ungenügender 
Löhne, schlechter Ernährung, zu hoher Mietzinsen und weil infolgedessen 
die körperliche Entwicklung nicht so ist, wie sie sein könnte. Die Heeres- 
vorlage wird eine Mehrheit hier finden. Manche Aenderungen sind noch 
möglich, namentlich das treffliche Programm des Herrn Häusler wird wohl 
die Abgeordneten des Zentrums zu entsprechenden Anträgen und Beschlüssen 
anregen. Scharnhorst und Gneisenau haben unter viel schwereren Ver- 
hälmissen reformiert. Auch diesmal müssen Reformen beginnen. Wollen 
Sie wieder auf ein Jena warten? Unsere Vorschläge sollen von „Vater- 
landsfeinden" stammen. Boyen und Clausewitz waren auch als Vater- 
landsfeinde gezeichnet wie wir; das ist eine gute Gesellschaft! Wir freuen 
uns so laut als möglich, daß die Gestaltung der Deckungsvorlagen 
die Wirksamkeit der 110 Mann hier so deutlich erkennen läßt. Hätte nicht 
die Wählerschaft Deutschlands uns ihr Vertrauen so überwältigend aus- 
gesprochen und nächst uns den linken bürgerlichen Parteien, so wäre es 
nicht so gekommen. Einzelheiten können wir scharf kritisieren. Aber das 
schreiben wir auf unser Gutkonto, daß zum ersten Male in unserer Finanz-- 
geschichte der eingestandene Versuch gemacht wird, zu Rüstungszwecken auch 
die Besitzenden heranzuziehen. Gelingt uns der Kampf gegen das Heeres- 
system nicht, so müssen wenigstens die Lasten auf die Schultern der Trag- 
fähigen und Besitzenden gelegt werden. Die Vorlagen entsprechen keines- 
wegs unsern Wünschen, aber anders sehen sie doch aus als 1909. Der 
bloße Gedanke einer Besitzsteuer rief damals Wut auf der Rechten hervor 
und die „Triarier Seiner Majestät“ zwangen damals aus diesem Grunde 
den Inhaber des höchsten Reichsamtes zum fluchtartigen Rückzug. Damals 
fügte sich die Regierung und fügten sich die neuen Männer, sügte sich der 
Reichskanzler, der der erste Gehilfe Bülows gewesen war und mit ihm ge- 
fochten hatte. Er war anderen Sinnes geworden und machte ihre Gedanken 
zu den seinen. Was hat ihn inzwischen zur Umkehr gebracht? Die Wahlen 
liegen eben dazwischen. Der Reichskanzler hat die Reichskasse ermächtigt, 
einen kleinen Beitrag von 100 Mark entgegenzunehmen von irgendeinem 
Wehrverein. Er würde nicht zögern, auch eine Milliarde freiwilligen Bei- 
trags entgegenzunehmen. Dann brauchten wir die ganze Vorlage gar nicht. 
Die Geschichte unseres deutschen Reichsfinanzwesens ist die Geschichte 
gebrochener Versprechungen. Aber durch alle Experimente hindurch und 
namentlich durch die Experimente mit den Matrikularbeiträgen, durch die 
Versuche der Besteuerung der Erbschaften zieht sich doch der eine einzige 
Grundgedanke, der schon im Art. 70 der Reichsverfassung klar ausgesprochen 
ist als der ursprüngliche Wille der Reichsgründer, der Schöpfer der Reichs 
verfassung: Einführung direkter Reichssteuern. Diese Bestrebungen fanden
	        
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