Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

170 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 10.) 
man, anstatt die Steuer auf das Einkommen und den Ertrag zu legen, 
die Deckung der Rüstungsvorlage durch die Erfassung der Ver- 
mögenssubstanz aufbringen will. Zu solchen Maßregeln greift man auch 
nur in Zeiten der höchsten Not, wenn entweder der Krieg unmittelbar vor 
der Tür steht, oder wenn man sich mitten im Kriege befindet. So weit 
aber sind wir doch noch nicht gekommen. Neben diesen prinzipiellen Be- 
denken sind es auch Bedenken mehr steuertechnischer Natur, die sich gegen. 
diese Vorlage geltend machen lassen. Die Erfassung des Vermögens für sich 
allein ohne Berücksichtigung des Einkommens führt zu steuerlichen Un- 
gerechtigkeiten und Ungeheuerlichkeiten. Die steuerliche Leistungsfähigkeit 
hängt doch nicht allein von dem Besitz eines bestimmten Vermögens, sondern 
vielmehr von dem Bezug eines bestimmten Einkommens, eines be- 
stimmten Ertrags ab. Deshalb hat man auch in allen modernen Steuer- 
gesetzgebungen, soweit die direkte Besteuerung in Frage kommt, niemals 
eine Vermögenssteuer für sich allein eingeführt, sondern eine Kombination 
zwischen Einkommen= und Vermögenssteuer gewählt. Die Hauptsteuer ist 
dabei die Einkommensteuer, und die Vermögenssteuer hat nur den Zweck, 
als Ergänzungssteuer zu wirken, und zwar in der Richtung, daß die so- 
genannten fundierten Einkommen, die auf Vermögensbesitz basieren, stärker 
herangezogen werden, weil sie bei der Einkommensteuer nicht genügend er- 
faßt werden konnten. Eine steuerliche Belastung von 1000 Millionen auf 
das Vermögen allein zu legen, ist deshalb grundsätzlich verfehlt. Die Vor- 
lage ist sich ja auch bewußt, daß man, wollte man das Vermögen allein 
fassen, zu Ungeheuerlichkeiten kommt. Sie gibt aber diesem Gedanken nur 
ganz ungenügend Ausdruck, indem sie die Einkommen nur von 50000 Mark 
ab aufwärts erfaßt. Diese untere Grenze der Einkommensbelastung wird 
aber jedenfalls erheblich niedriger zu begreifen sein. Dazu kommt noch, 
daß dieser ganze Wehrbeitrag nur zu sehr geeignet ist, einer dauernden, 
regelmäßigen Reichsvermögenssteuer den Weg zu ebnen. Hat man 
einmal eine von Reichs wegen durchgeführte Abschätzung und Festlegung 
der Vermögen im ganzen Deutschen Reiche, so wird auf dieser Grundlage 
natürlich mit Leichtigkeit eine Reichsvermögenssteuer aufgebaut werden 
können. Diese Gefahr liegt um so näher, als die Tätigkeit der professionellen 
Rüstungsfanatiker, die gewohnt sind, von „lumpigen 100 Millionen“ zu 
sprechen, denen alles nicht genug ist, was hier im Reichstag bewilligt und 
von den verbündeten Regierungen verlangt wird, welche die jetzigen un- 
geheuren Forderungen als „das Mindestmaß“ des zu Verlangenden be- 
zeichnen, leider für die Zukunft recht unangenehme Perspektiven eröffnet 
und noch manche Ueberraschungen erwarten läßt. In der Richtung der 
möglichsten Schonung der Kleinen geht das Verlangen nach Heraufsetzung 
der steuerlichen Mindestgrenze bei Vermögen, die jetzt mit 10000 Mark 
in Aussicht genommen ist. Die Einkommen will man nur von 50000 Mark 
aufwärts erfassen, bei dem Vermögen will man aber bis zu 10000 Mark 
heruntergehen. Hierin scheint mir ein Widerspruch zu liegen, der aus- 
geglichen werden muß. Es ist geradezu unverständlich, daß nach Ansicht 
des Bundesrats ein Mann, der ohne Vermögensbesitz ein jährliches Ein- 
kommen von 30000 bis 40000 Mark hat, unter allen Umständen von diesem 
Opfer befreit bleiben soll, während ein Bauer, Handwerker oder Kaufmann, 
dessen ganzes Vermögen, Grundbesitz, Warenvorräte, Betriebseinrichtung 
nur 10000 Mark beträgt, und der sich mit seiner Familie notdürftig durch- 
schlagen muß, zum Wehrbeitrag herangezogen werden soll. 
Das Vermögenszuwachssteuergesetz, das mit der Ueberschrift 
„Besitzsteuergesetz“ versehen ist, bringt auch eine Heranziehung des Kindes- 
und Gattenerbes zur Steuer. Neben den sonstigen schweren Bedenken ist 
 
	        
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