Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

176 Das Beuische Reich uud seine einzelnen Glieder. (April 11.) 
Abg. v. Payer (Fortschr. Vp.): Daran kann kein Zweifel sein, daß 
die von der Regierung gemachten Vorschläge keine Besitzsteuer bedeuten. 
Im Bundesrat war eine große Mehrheit für die Erbschaftssteuer vorhanden. 
Wir wollen dieser Mehrheit den Weg zeigen, ihren Willen in die Tat um- 
usetzen. Im Großen und Ganzen liegt dieser Vorschlag ja in brauchbarer 
Porm vor, und wenn wir ihn annehmen, so kann auf diesem Wege sofort 
für die Deckung der Bedürfnisse des Reiches gesorgt werden. Ich gebe nicht 
zu, daß gegen unsere Form der Besitzsteuer irgendwas Ernstliches spreche. 
Dagegen sind Vorteile vorhanden, die unbestreitbar sind. Ich kann mir 
kaum etwas anderes denken, als daß die Konservativen und das Zentrum 
sich in diese Frage so verbissen haben, daß sie den allerschärfsten Widerstand 
leisten, den zu brechen die Regierung nicht die Kraft in sich fühlt. Für 
uns kann dieser Widerstand nicht maßgebend sein, ich habe sogar das Ge- 
fühl, daß auf der Rechten und im Zentrum mehr als einer sitzt, der unter 
dem Eindruck leidet, daß sich die beiden Parteien in dieser Frage verrannt 
haben, und der innerlich froh wäre, wenn dadurch Hilfe würde, daß die 
Parteien einfach überstimmt würden, und ich hoffe, daß wir diese Freude 
recht vielen machen können. (Lebhafter Beifall und große Heiterkeit.) Es 
heißt immer, man dürfe eine derartige Vorlage nicht mit Hilfe der Sozial- 
demokratie machen, das könne man den Regierungen nicht zumuten. Ja, 
weshalb denn nicht? Unsere Regierungen sind doch sonst nicht so heitkel. 
In der elsaß-lothringischen Frage haben sie die Hilfe doch angenommen, 
und in der Leuchtölkommission haben sie den Beistand aus ethischen oder 
aus politischen Rücksichten auch nicht zurückgewiesen. Das ist kein Zustand, 
daß man die Sozialdemokraten sonst zur Hilfe nehmen kann, aber in der 
Steuerfrage nicht. Wenn sich eine Mehrheit finden wird, so wird es nur 
einer Herabsetzung der Steuersätze bedürfen, um ebensoviel zu bringen, wie 
die veredelten Matrikularbeiträge bringen sollen. Müssen aber mehr Mittel 
aufgebracht werden, so muß die Einführung einer Reichsvermögenssteuer 
ernstlich gefordert werden. Auch wir wissen, daß sie einen höchst unerwünschten 
Einbruch in das Jagdrevier der Einzelstaaten bedeutet. Aber den Ausgaben, 
die wir beschließen, und den jährlichen Steigerungen gegenüber müssen die 
kleinen, armseligen Beihilfen auf die Dauer versagen, die die Regierung 
bringt. Unsere Reichssteuergesetzordnung ist ein böses Flickwerk. Es ist etwas 
Wunderschönes um die theoretische Weisheit, daß die indirekten Steuern 
dem Reiche und die direkten Steuern den Einzelstaaten gehören sollen. Schon 
seit Jahren hat man das nicht durchführen können. Eine heillosere Ver- 
wirrung in ihrem Steuersystem haben die Einzelstaaten nicht mehr zu be- 
fürchten, als die Verwirrung, die jetzt schon da ist und die da wäre, wenn 
die neuen Steuern Gesetz würden. Jede umfassende Steuer erleichtert und 
verbessert die Lage der Einzelstaaten. Man könnte bei richtiger Anordnung 
den Satz niedriger halten, so daß die Einzelstaaten durch Zuschläge sehr 
wohl das nötige Geld einbringen könnten. Was die Einzelstaaten fürchten, 
das ist der formelle, nicht mehr der materielle Eingriff. Sie wollen sich 
nicht eingestehen, wie hilflos sie bereits sind. Die Einzelstaaten sollten den 
Bogen nicht überspannen, sie sollten in ihrem Widerspruch gegen die Reichs- 
vermögenssteuer nicht zu hart sein. Denn ich weiß keinen anderen Weg, 
sie vor dem Allerschlimmsten zu bewahren, als daß man ihnen auch den 
letzten und wichtigsten Notanker, die Einkommensteuer auch noch von Reichs- 
wegen nimmt Es ist schon die Axt an diese Wurzel gelegt. Ich erinnere 
an die Tantièemensteuer. Geht es so weiter, dann wird die Einkommen- 
steuer der Bundesstaaten bald gefährdet sein. Es ist kein Grund dafür 
vorhanden, daß die Sozialdemokratie Mißbrauch mit der Einkommensteuer 
treiben werde. Setzen wir aber einmal den Fall, daß die Sozialdemokratie
	        
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