Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 11.) 177 
in diesem Hause dauernd die Mehrheit bekäme und dauernd das Finanz- 
wesen umformen würde! Glauben Sie, daß die Entscheidung darüber, ob 
das der Sozialdemokratie gelingt, davon abhängt, ob wir schon die Einkommen- 
steuer und Vermögenssteuer eingeführt haben oder nicht? Das bleibt ganz 
gleichgültig. Hat sie die Macht, so tut sie, was sie will. Man sollte ihren 
Einfluß nicht zu groß werden lassen. Aber ist das ein richtiger Grund? Die 
Reichsvermögenssteuer geht unaufhaltsam ihren Weg, ob die Einzelstaaten 
wollen oder nicht wollen. Wenn wir erst einmal die Kataster für den Wehr- 
beitrag haben werden, so ist das ein Reiz, so stark, daß diesem Reiz niemand 
widerstehen kann. Das liegt ganz in der Natur der Dinge. Wir könnten den 
ganzen Wehrbeitrag sparen, wenn wir erst die Reichsvermögenssteuer hätten. 
Dann hätte man durch einmalige Zuschläge und ihre Verteilung auf eine Zahl 
von Jahren viel rationeller und gerechter die Mittel aufgebracht. Zu dem Wehr- 
beitrag habe ich im einzelnen keine Bedenken. Wir weisen die Bezugnahme auf 
1813 zurück. Damals handelte es sich um die Befreiung des Vaterlandes vom 
Joche des fremden Eroberers, damals handelte es sich um Gut und Blut. Als 
Lohn für die Aufbringung dieser Lasten winkte die Befreiung vom fremden 
Joche, die Erhaltung des Staates. Jetzt haben wir eine der üblichen Rüstungs- 
vermehrungen, die alljährlich kommen, bloß daß sie diesmal etwas außer- 
gewöhnlich groß ausgefallen sind. 
Abg Freiherr v. Gamp (Rp.): Wir haben alle Veranlassung, dem 
Schatzsekretär für diese Vorlage zu danken. Der 31. Dezember ist aber der 
ungeeignetste Augenblick zur Feststellung des Wertes des Aktienbesitzes. Die 
Foststellung des Wertes von ländlichen Grundstücken ist ungemein schwierig, 
fast unmöglich. Der Kauf von solchen Grundstücken hängt von ganz indi- 
viduellen Gründen ab, die mit dem Wert der Grundstücke an sich nichts zu 
tun haben. Deshalb empfiehlt sich die Einschätzung nach dem Ertragswert, oder 
noch besser die Einschätzung auf Grund der Taxatur von Landschafts- und 
Hypothenbanken. Die Bestimmungen des Gesetzes über die Vermögens- 
und Einkommensgrenze müssen natürlich geändert werden. Man soll keiner 
Perion von entsprechendem Einkommen den Wunsch, zu der nationalen 
Spende beizutragen, unmöglich machen. Eine erhebliche Staffelung erscheint 
nicht berechtigt. Die Besteuerung der Aktiengesellschaften ist natürlich eine 
Doppelbesteuerung, die aber eingeschränkt wird, wenn man die Bestimmung, 
daß die Aktien nach dem Neunwert in Rechnung gestellt werden sollen, beseitigt. 
Abg. Graf Posadowsky (W.): Ich bedauere, daß die verbündeten 
Regierungen die Vorlage über das Erbrecht uns hier unterbreitet haben. 
Es wird in den Motiven des Gesetzentwurfes ausgeführt, wie in Deutschland 
sich die Familienbande immer mehr gelockert haben, daß selbst von nahen 
Verwandten schon jedes Band der Verwandtschaft gerissen sei. Wenn ein 
Ausländer diese Motive lesen würde, müßte er vom deutschen Familien- 
leben und von dem deutschen Volkscharakter einen sehr ungünstigen Eindruck 
bekommen. Ich bedauere aufrichtig, daß die verbündeten Regierungen ein 
solches Zerrbild vom deutschen Familienleben entworfen haben, lediglich aus 
finanziellen Gründen. (Sehr richtig! r.) Bei uns in Deutschland beruht 
doch alles auf dem Familienleben und nicht zuletzt auf der Vaterlands- 
liebe. Nun unterbreitet man uns zum zweiten Male eine derartige Vor- 
lage. Es ist unzweifelhaft richtig, daß durch unsere Armee, unser großes 
Beamtentum, unsere Arbeiter, die dienstlich gezwungen sind, häufig ihren 
Wohnsitz zu ändern, daß sich durch alles dies die Familienbande bis zu 
einem gewissen Grade gelockert haben. Aber gerade, wenn das eine bedauer- 
liche Folgeerscheinung ist, dann wäre es Pflicht der Regierung, uns nicht 
Steuergesetze vorzulegen, die lockern, weitergraben, sondern solche, die dafür 
sorgen, daß die Familienbande gestärkt werden. Sehr richtig! r. und Un- 
Europäischer Geschichtskalender. LIV.                          12
	        
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