6 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 6. —8.)
außerordentlichen 60 Millionen Mark hinzu. An Ausgaben einmaliger und
außerordentlicher Natur 60 870 000 Mark, an dauernden Ausgaben 30 000
Mark. Die ungewöhnliche Anschwellung des Eisenbahnverkehrs in den In-
dustriebezirken hatte bauliche Aenderungen an Bahnhöfen und Bahnstrecken
verursacht, die den Nachtragsetat erklären.
6.—8. Januar. (Berlin.) Vierter Parteitag der preußischen
Sozialdemokratie. Wahlrechtsfragen und Wahltaktik.
Ein Geschäftsordnungsantrag, die Polenfrage besonders zu behandeln,
um die Polenpolitik oder, wie der Antragsteller sagte, die Ausraubungs-
politik der preußischen Regierung nachdrücklich verurteilen zu können, wurde
abgelehnt, ebenso ein Antrag auf Behandlung der Jugendfrage. Ein Ver-
treter der englischen Arbeiterpartei überbrachte die Grüße seiner sozial-
demokratischen Landsleute und betonte dabei, daß auch die englischen Ar-
beiter ebenso wie die preußischen für die Erweiterung des Wahlrechts
kämpften; vor allem kämpften sie gemeinsam mit ihren deutschen Brüdern
für eine bessere Verständigung zwischen Deutschland und England. Dann
erstattete der Vorsitzende Eugen Ernst den Bericht des geschäftsfüh-
renden Ausschusses und schilderte dabei, wie alle Versuche, in Preußen
ein besseres Wahlrecht zu erreichen, gescheitert seien. Aber die Wahl-
rechtsfrage werde nicht verschwinden. Das preußische Volk ist politisch reif
und verlangt sein Recht, und daß man ihm das Recht vorenthält, hat eine
solche Erbitterung erzeugt, daß Vorschläge laut wurden, mit einem politischen
Massenstreik zu antworten. Der Landesvorstand hat die Anwendung dieses
Kampfmittels zurzeit nicht für opportun gehalten. Damit soll aber nicht
gesagt sein, daß es unter allen Umständen verworfen wird. Treiben die
herrschenden Klassen ihren Hohn und Spott so weiter, schaltet man jedes
Mitbestimmungsrecht der Arbeiterschaft weiter aus, verharrt man in dieser
politischen Einsichtslosigkeit weiter und gebieten die Umstände es, dann
bleibt der arbeitenden Klasse kein anderes Mittel übrig, als den herrschenden
Klassen ihre Kraft zu zeigen. Bei der Verhandlung über die Wahlrechts-
vorlage im preußischen Abgeordnetenhaus hat sich das Zentrum als eine
Partei vollendeter Infamie und Heuchelei gezeigt. Aber wenn wir bisher
in der Wahlrechtsfrage auch noch keinen Erfolg erzielt haben, so sind die
Massen doch aufgerüttelt worden. Wenn der preußische Liberalismus sich
aufrafft, so soll er unsere Unterstützung beim Wahlrechtskampf in vollstem
Maße finden. Der Redner fand stürmischen Beifall, als er mit der üblichen
Versicherung schloß, daß die Sozialdemokratie den Sieg auf ihrer Seite
haben werde. Im Anschluß an diesen Bericht wurde einstimmig folgender
Antrag angenommen: „Der preußische Parteitag beauftragt die Landes-
kommission, durch die Kreisorganisationen bei der bevorstehenden Landtags-
wahl die sozialdemokratischen Urwählerstimmen in den drei Wählerklassen
und die Wahlmännerstimmen der Abgeordnetenwahl selbständig zu zählen.
Zu dem Zweck hat die Landeskommission den Kreisorganisationen das Zähl-
material zur Verfügung gestellt.“
Der Bericht über die Tätigkeit der Landtagsfraktion wurde
noch in einer längeren Rede von dem Abgeordneten Ströbel ergänzt, der
sich dabei auch gegen den in den eigenen Parteikreisen laut gewordenen
Vorwurf verwahrte, als hätten die sozialdemokratischen Vertreter im preu-
ßischen Abgeordnetenhause zu viel und zu lange geredet. Zunächst hätte
die Sozialdemokratie im preußischen Abgeordnetenhause sehr viel zu sagen
gehabt; nachdem sie das gesagt habe, könne sie nun auch etwas mehr Zu-
rückhaltung üben, und das sei in letzter Zeit ja geschehen.
Als Referent über die Landtagswahlen führt Landtagsabg. Hirsch