Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

240 Das Dentsqhe Reiqh und seine einzelnen Glieder. (Juni 10.) 
Energie gegen die Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit. Eine 
große Zahl der französischen Soldaten hat bekanntlich gegen die Zurück- 
haltung der Truppen protestiert. Bei uns dagegen hat sich eine große 
nationale Begeisterung entflammt, und die bürgerlichen Parteien kennen in 
ihrer Bewilligungslust gar keine Grenzen. Wenn man die Stimmung in 
Frankreich richtig beurteilen will, darf die Tatsache nicht unerwähnt bleiben, 
daß eine große Zahl französischer Parlamentarier zur Konferenz nach Bern 
gekommen sind und darüber beraten haben, wie eine Besserung der deutsch- 
französischen Beziehungen herbeigeführt werden könnte. Ein Jammer war 
es, daß das deutsche Bürgertum dieser Konferenz gegenüber eine so un- 
glaubliche Gleichgültigkeit zur Schau getragen hat. 
Was die Rüstungen des Dreibundes betriftt, so denkt Oesterreich- 
Ungarn gar nicht daran, seine Rüstungen seiner Volkszahl entsprechend 
jetzt auf denselben Umfang zu bringen, wie es die deutsche Regierung tut. 
Die österreichische Bevölkerung beziffert sich auf 72 Millionen, also 7 Mil- 
lionen mehr als die Bevölkerung Deutschlands. Dabei ist das stehende 
Heer Oesterreich-Ungarns nur 329000 Mann stark. Wenn Oesterreich- 
Ungarn den gleichen Prozentsatz seiner Bevölkerung zum Heeresdienst heran- 
ziehen wollte wie Deutschland, dann müßte es sein Heer auf 626000 Mann 
bringen. Die österreichische Regierung sieht die internationale Lage als 
nicht so gefährlich an wie die deutsche Regierung. Das ist für uns ein 
Grund mehr dafür, daß wir die Vorlage der Regierung mit allem Nach- 
druck bekämpfen. Die Belastung des Volkes durch den Heeresdienst soll 
jetzt dergestalt gesteigert werden, daß über das eine Prozent der Bevölkerung 
von 1871, in. welchem damals auch noch die Marine einbegriffen war, 
weit hinausgegangen werden soll. In wenigen Jahren werden 175000 Mann 
mehr als jetzt dauernd der Volkswirtschaft entzogen sein. Diese Entziehung 
von Arbeitskräften wird namentlich dem deutschen kleinen Bauerntum 
schweren Schaden zufügen. Der Ausgleich, den die Kommission dadurch 
schaffen will, daß den Familien, die mehrere Söhne beim Heere haben, 
eine Entschädigung gezahlt werden soll, genügt in keiner Weise. Ueber die 
Mannschaftsverstärkung ist in der Kommission eigentlich nichts gesagt 
worden, nur die sechs Kavallerieregimenter haben eine ausgiebige Debatte 
veranlaßt, denn über den Wert der Kavallerie gehen die Ansichten weit 
auseinander. Daß nicht so viele Regimenter bewilligt sind, wie gefordert 
wurden, darüber können eigentlich nur die Leute betrübt sein, die sich auf 
das lukrative Geschäft des Remontezüchtens gelegt haben. Es wäre inter- 
essant festzustellen, wieviel von den 17 Millionen für die Pferdeankäufe 
in die Tasche von Konservativen fallen. (Ruf l.: 161) Die Vermehrung 
der Kavallerie wird nur zu weiterer kastenmäßiger Abschließung führen. 
Die Rriegstechnik hat in den letzten Jahrzehnten eine vollständige Revo- 
lutionierung erfahren, namentlich die Kavallerie hat kolossale Wandlungen 
durchgemacht, als Schlachttruppe ist sie ganz ausgeschieden. 
Kriegsminister General von Heeringen: Sie werden von mir 
nicht erwarten, daß ich auf die 4 ⅛ stündige Rede des Vorredners aus- 
führlich eingehe. Ich will nur einen Punkt richtigstellen. Der Abg. Noske 
hat die Beschuldigung hier ausgesprochen, daß ich in der Budgetkommission 
die Mitglieder der sozialdemokratischen Partei mit Zuhältern auf eine Stufe 
gestellt hätte. Das ist nicht wahr. Ich bin gefragt nach den Gesichtspunkten, 
unter denen Militärverbote der Wirtschaften ausgesprochen würden. Darauf 
habe ich geantwortet, daß einerseits dicjenigen Wirtschaften, in denen nach- 
weisbar sozialdemokratische oder deutschfeindliche Betätigung festgestellt würde, 
verboten würden, anderseits auch solche, wo Verhältnisse existieren, die 
Soldaten zu liederlichem Leben verleiten könnten. Nur eine krankhafte
	        
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