Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Das Denisqhe Reith und seine einzelnen Glieder. (Juni 11.) 243 
nahmen, die seit März in Frankreich durchgeführt oder begonnen worden 
sind. Die französischen Maßnahmen zwingen Deutschland zur Ver- 
abschiedung der Wehrvorlage. Der Abg. Noske hat eine Verständigung mit 
Frankreich empfohlen. Zu einer Verständigung gehören aber immer zwei. 
Deutschland hat in den letzten Jahren mehr als einmal Frankreich offen 
und ehrlich die Hand hingehalten. Will Frankreich einmal offen und ehr- 
lich die durch den Frankfurter Frieden geschaffenen Tatsachen anerkennen, 
dann ist die Basis für die Verständigung vorhanden. Dann hat sich der 
Abg. Noske über den angeblichen Mangel an Friedensliebe an maßgebender 
Stelle beklagt. Unserem Kaiser kann man aber doch wohl nicht diesen Vor- 
wurf machen. Roosevelt hat seinerzeit ausdrücklich anerkannt, daß die einzige 
Persönlichkeit in der ganzen Welt, die ihn unterstützt hätte bei der Herbei- 
führung des Friedens zwischen Rußland und Japan, der deutsche Kaiser 
gewesen sei. Die französischen Blätter haben gleichfalls die Friedensliebe 
unseres Kaisers oft anerkannt. Sie ziehen aber nicht die Konsequenzen 
daraus. Es ist dann auf die bekannten Vorgänge im französischen Heere 
hingewiesen worden. Mir sind die französischen Erfahrungen nicht über- 
raschend gekommen, sie sind eine Folge der französischen Politik der letzten 
Jahre. Der Kulturkampf in Frankreich mußte dieses Resultat des Syndi- 
kalismus zeitigen. Obwohl unsere Bevölkerungszahl über die Hälfte größer 
ist als diejenige Frankreichs, macht Frankreich die größten Anstrengungen, 
um so viel Soldaten aufzubringen als wir. Solange diese Tatsache vor- 
liegt, können wir an die Friedensliebe Frankreichs nicht glauben. Die leb- 
hafte Agitation in Frankreich für die Durchführung der militärischen Maß- 
nahmen ist keineswegs ein Beweis für die französische Friedensliebe. Von 
maßgebenden französischen Stellen, unter anderen vom französischen Minister- 
präsidenten und von dem Berichterstatter der Kommission für die französische 
Heeresvorlage, sind öffentlich falsche Angaben über unser deutsches Heer ge- 
macht worden. Es wird immer behauptet, daß die französischen Maßnahmen 
durch die deutsche Wehrvorlage veranlaßt worden seien. Die französischen 
Rüstungskredite waren aber bereits am 10. Februar 1913 völlig im Mini- 
sterium ausgearbeitet. Damals war die deutsche Heeresvorlage noch gar 
nicht bekannt. Der frühere französische Minister Millerand hat offen erklärt, 
daß er bereits als Minister alle diese Maßnahmen völlig vorbereitet hätte 
und entschlossen gewesen sei, die notwendigen Kredite unbedingt zu fordern, 
unbekümmert darum, ob Deutschland sein Heer verstärke. Bereits im De- 
zember 1912 hat Millerand diese Vorlage beschlossen. Die Verlängerung 
der Dienstzeit ist am 6. März 1913 der französischen Deputiertenkammer 
zugegangen, die deutsche Wehrvorlage ist uns erst am 29. März unterbreitet 
worden. Was die deutsche Vorlage im einzelnen betrifft, so haben wir in 
der Kommission eine Reihe von Wünschen durchgesetzt, die wir in der ersten 
Lesung geäußert haben, darunter auch den, daß die Personen des Beurlaubten- 
standes möglichst nur im Winter zu Uebungen eingezogen werden. Es würde 
damit auch den Wünschen der Landwirtschaft Rechnung getragen werden. 
Der Kriegsminister hat eine Ausdehnung des Ernteurlaubes in Aussicht 
gestellt. Wir stimmen den geforderten Maßnahmen zu in der festen Ueber- 
zeugung, daß es eine stärkere Garantie für den Frieden nicht gibt, als 
wenn Furcht und Respekt vor unserer Armee vorhanden ist. Wir betrachten 
die Vorlage als ein sicheres Friedensinstrument. 
Abg. Dr. Semler (Nl.): Den drei Grundsätzen, die der Abg. Erz- 
berger als maßgebend für die Bewilligung der Wehrvorlage geprägt hat, 
füge ich den vierten hinzu: wir wünschen die allgemeine Wehrpflicht 
durchgeführt zu sehen im Sinne der Scharnhorstschen Gedanken. Das ist 
praktisch auch der Sinn der heutigen Wehrvorlage. Wir Nationalliberalen 
16“
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.