Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

270 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 28. 
gehoben wird und die Gemeinden das Recht zurückerhalten, ihre frühere 
Wertzuwachssteuer wieder einzuführen und umzugestalten. Der übrige Teil 
des Finanzgesetzes wurde entsprechend den Kommissionsbeschlüssen von fast 
allen Parteien angenommen. 
           28. Juni. (Reichstag.) Dritte Beratung der Wehrvorlage. 
Von den Nationalliberalen und von den Deutschkonservativen liegen 
Anträge auf Bewilligung der in zweiter Lesung gestrichenen drei neuen 
Kavallerieregimenter vor, ferner eine Resolution des Zentrums wegen Be- 
rücksichtigung des Handwerks und seiner Organisationen bei Vergebung 
von militärischen Arbeiten und Lieferungen. 
In der Generaldiskussion erhielt zuerst das Wort Abg. Scheide- 
mann (Sd.): Ein ereignisreicher Abschnitt gelangt jetzt zum Abschluß, und 
zwar zu einem Abschluß, der, wie Sie uns zugeben werden, uns nicht 
überrascht. Wir wollen in der letzten Stunde noch einmal feststellen, daß 
wir dieses Gesetz mit aller Energie bekämpfen, und daß wir auch den 
Geist, aus dem heraus dieses Gesetz geboren worden ist, weiter bekämpfen 
werden. Ein Teil der französischen Presse hat uns den Vorwurf gemacht, 
daß wir im geheimen das Zustandekommen der Militärvorlage gefördert 
haben. Diese Behauptung ist zu dumm, um darauf näher einzugehen. Ich 
muß es als eine Verleumdung bezeichnen, wenn die Behauptung aufgestellt 
wird, daß ein Teil der internationalen Sozialdemokratie in der Bekämpfung 
des Militarismus schwächer gewesen ist als der andere Teil. Wir sind uns 
darüber völlig einig, daß wir den Militarismus in jeder Beziehung hindern 
und alles tun müssen, was in unseren Kräften steht, um ihn zu bekämpfen. 
Der Haß gegen dieses militaristische System ist aus wahrer Bruder- 
liebe und Vaterlandsliebe geboren. Wir wollen nicht, daß unsere Brüder 
und Söhne zu willenlosen Maschinen und Werkzeugen gemacht werden, 
und daß man von ihnen verlangt, daß sie ihre Blutsverwandten totschießen 
sollen. Ein solches System kann unter keinen Umständen gebilligt werden. 
Wohin dies führt, zeigt das furchtbare Bluturteil des gestrigen Tages. 
Sieben Arbeiter aus Wolkramshausen bei Erfurt wurden wegen Zusammen- 
rottung, militärischen Aufruhrs sowie wegen Mißhandlung eines Gendarmen 
und eines Dorfpolizisten zu insgesamt 16 Jahren Zuchthaus und 12 Jahren 
Gefängnis verurteilt, und diese Delikte haben diese unglücklichen Menschen im 
Rausche begangen. Die öffentliche Anklagebehörde hatte sogar 43 Jahre Zucht- 
haus beantragt. Wenn man nicht wüßte, daß es Menschen sind, die dieses Ur- 
teil gefällt haben, so müßte man glauben, es seien Bestien gewesen. (Präsident 
Dr. Kaempf: Sie dürfen die Richter nicht Bestien nennen.) Das habe ich 
auch nicht gesagt. Es ist ein unerträglicher Zustand, daß es überhaupt 
möglich ist, daß etwas Derartiges geschehen kann. Gegen ein derartiges 
Syustem müssen wir uns mit aller Entichiedenheit wenden, aber alle unsere 
Mahnungen zur ruhigen Ueberlegung und Einsicht sind abgeprallt an Ihren 
Fraktionsbeschlüssen. Wir haben die traurige Erfahrung machen müssen, 
daß eine große Anzahl Abgeordneter aus praktischen Erwägungen heraus 
wider ihre bessere Ueberzeugung der Wehrvorlage ihre Zustimmung gegeben 
haben. Präsident Dr. Kaempf: Es ist unzulässig, daß Sie Abgeordneten 
vorwerfen, gegen ihre bessere Ueberzeugung gehandelt zu haben. Ich rufe 
Sie zur Ordnung!, Es kann sicherlich nicht angefochten werden, daß die 
Nachricht von der bevorstehenden Einbringung einer Militärvorlage von 
riesigen Dimensionen wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen hat. 
Wenn es vom Willen dieses Hauses abhängig gewesen wäre, ob die Vor- 
lage überhaupt eingebracht werden solle, dann würde diese Wehrvorlage 
überhaupt nicht existieren. Diese Vorlage hat auch das Zentrum getroffen,
	        
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