Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

274 Das Dentsqhe Reiqh und seine einzeluen Glieder. (Juni 28.) 
breiten Heerstraße der Tradition unter dem Schutz der Autorität geduldig 
dahintraben können, aber wir haben die Gewißheit, daß die Vernunft, das 
große Prinzip des menschlichen Fortschrittes, unter allen Umständen doch 
schließlich den Sieg davontragen muß. Meine Herren, wir wissen, daß die 
Vernunft, hundertmal niedergetreten, verleugnet und beschimpft werden 
kann; aber immer und immer erhebt sie sich wieder, bis der Sieg schließlich 
ihr zufällt. Ich bin überzeugt, die Vernunft wird sich auch bei denen 
geltend machen, die jetzt im Begriffe stehen, etwas nach unserer Anschauung 
Unvernünftiges zu tun. Und in letzter Stunde sozusagen rufe ich Ihnen 
angesichts des ganzen Volkes, ja der ganzen Welt zu: suchen Sie die Ver- 
söhnung mit Frankreich! Gewinnen Sie den Mut, einmal wirkliche Volks- 
vertreter zu sein, d. h. Vertreter des Volks, das nichts wissen will vom 
Wettrüsten, des Volks, das keine Völkerverhetzung will, das den Frieden 
will und das Frankreich liebt! 
Abg. Schultz-Bromberg (Rp.): Der Herr Abgeordnete Scheidemann 
hat, wie häufig die Herren Sozialdemokraten mit Ueberraschungen auf- 
zuwarten pflegen, mit einer bisher nur im „Vorwärts“ veröffentlichten 
Depesche über ein anscheinend sehr hartes Urteil des Kriegsgerichts 
in Erfurt im Hause Bewegung bervorgerufen. Jeder von uns wird, 
wenn die Nachricht nicht bloß richtig ist, sondern das Urteil in der Tat 
so hart ist, wie es dem äußeren Anschein nach ist, das menschliche Mitleid 
haben, das Sie auf der sozialdemokratischen Seite nicht allein für sich in 
Anspruch nehmen können. Wenn ich mich heute noch zum Wort gemeldet 
habe, so habe ich das im wesentlichen aus einem anderen Grunde getan, 
als um der Rede des Herrn Abgeordneten Scheidemann zu antworten. 
Wir haben bei der zweiten Lesung, in der die bürgerlichen Parteien sich 
die äußerste Zurückhaltung auferlegt haben, hier Angriffe so heftiger Art 
auf unser Offizierkorps und unser Unteroffizierkorps und unsere 
ganze Armee erlebt, daß ich sie nicht richtig charakterisieren kann, ohne 
auch gegenüber dem wohlwollendsten Herrn Präsidenten zu verstoßen. Jetzt 
in letzter Stunde muß aber doch einmal ein Wort zur Ehre und zum Schutz 
unserer Armee bis zum letzten Mann herunter gesagt werden. Es ist Ihnen 
nicht gelungen, im Volke den Glauben zu erwecken, daß unsere Armee nicht 
mehr das ist, was sie war. Der Zusammenhang zwischen unserem Offizier- 
korps und den Mannschaften ist nicht erschüttert, mögen Sie reden, was 
Sie wollen! — Es ist Ihnen nicht gelungen, das strahlende Ehrenkleid 
unseres Offizierkorps zu schwärzen! Es ist Ihnen nicht gelungen, die 
dentsche Armee in den Staub zu ziehen. Der deutschen Armee, geschaffen 
zum Schutze für das Volk, für Heim und Hos, sollten Sie nicht das Ver- 
trauen des Volks entziehen, und Sie sollten vor allen Dingen ihr nicht 
das Vertrauen zu ihren Führern rauben. Wer soll denn mit Zuversicht 
in den Krieg ziehen, wenn die Anschuldigungen als allgemeine Wahrheiten 
gelten, die Sie hier von der Tribüne gegen unser Offizierkorps, das bisher 
als das beste der Welt gegolten hat und Gott sei Dank im Auslande und 
bei uns noch weiter gilt, geschleudert haben? Ich will hoffen, daß unsere 
Armee ist und bleibt, was sie war: das stärkste und furchtbarste Kriegs- 
instrument, das jemals einem Kriegsherrn in die Hand gelegt worden ist, 
darum aber auch die beste Garantie für den Frieden der ganzen Welt. 
Reichskanzler v. Bethmann Hollweg: Ich kann einige Ausfüh- 
rungen des Herrn Abg. Scheidemann nicht unerwidert ins Land gehen 
lassen. Der Abg. Scheidemann hat ebenso, wie es vor einiger Zeit ein 
Parteifreund von ihm getan hat, uns dargelegt, er könne in keiner Weise 
eine Ueberzeugung dafür gewinnen, daß diese Wehrvorlage notwendig sei. 
Es ist mir vorgeworfen worden, ich hätte meine Pflicht nicht erfüllt, indem
	        
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