Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 13.) 15
der Tat alle Vorbereitungen getroffen gehabt, daß Prinz Ludwig sofort
nach dem Tode des Vaters sich als König proklamiere und damit eine voll-
endete Tatsache schaffe; Prinz Ludwig aber habe sich auf den Vorschlag
nicht eingelassen. — In der Absicht, dieser Behauptung die Berechtigung
abzustreiten „und einer Legendenbildung vorzubeugen“, konstatiert der
klerikale „Bayerische Kurier“, „daß zum wenigsten ein Minister und zwar
ein für die Beurteilung der rechtlichen Sachlage nächstbeteiligter niemals
für diesen Weg der Regentschaftsänderung zu haben gewesen wäre“.
Das „Bayerische Vaterland“ bestritt die Behauptung Lernos, als
seien in der Zentrumsfraktion besonders die bäuerlichen Abgeordneten
„gegen den König“ gewesen, worauf ein anderes klerikales Blatt, der
„Bayerische Kurier“ diese „Indiskretion“ zu widerlegen sucht. Darauf er-
scheint in der „Bayerischen Staatszeitung" folgende Erklärung:
„Die Blätter fahren fort, die Regentschaftsfrage zu erörtern. Nachdem
Prinzregent Ludwig es als seinen bestimmten Willen bezeichnet hat, daß
zurzeit von irgendwelchen Maßnahmen zur Beseitigung der Regentschaft
abgesehen werden wolle, sieht die Staatsregierung sich nicht veranlaßt, sich
an rückschauenden Betrachtungen darüber zu beteiligen, was in der kurzen
Zeit zwischen dem Ableben des Prinzregenten Luitpold und dem Zu-
sammentritt des Landtags geschehen ist, oder was hätte geschehen sollen
oder können.“
13. Januar. (Essen.) Zum Streit der Kassenärzte gegen die
ihnen von den Krankenkassen aufgezwungenen Honorarbedingungen.
Der Hauptverband Deutscher Ortskrankenkassen in Dresden, der Haupt-
verband Deutscher Betriebskrankenkassen in Essen, der Gesamtverband Deut-
scher Krankenkassen in Essen und Köln, der Allgemeine Deutsche Knapp-
schaftsverband in Berlin, der Verband Deutscher Innungskrankenkassen in
Hannover und die Zentrale für das Deutsche Krankenkassenwesen in Berlin
erlassen eine Erklärung, worin sie dem Leipziger Aerzteverband die Ver-
antwortung für das Scheitern der Vermittlungsversuche der Regierung zu-
schieben, sich gegen Sonderverhandlungen zwischen Krankenkassen und Aerzte--
kreisen aussprechen und im übrigen die Hilfe der Regierung erbitten.
13. Januar. (Reichstag.) Erste Beratung des Gesetzentwurfs
über das Verfahren gegen Jugendliche. Zweite Beratung des Etats
für das Reichsamt des Innern.
Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Lisco: Ich möchte nur an
wenigen Zahlen aus der Kriminalstatistik die Bedeutung der kriminellen
Behandlung Jugendlicher veranschaulichen. Im Jahre 1910 sind Per-
sonen zwischen 12 und 18 Jahren verurteilt worden wegen Verbrechen und
Vergehen im ganzen 51315. Diese Zahl betrug im Jahre 1909 49700,
in den Jahren 1908 und 1907 54000. Auf 100000 Jugendliche entfallen,
obwohl diese Ziffern seit 1906 eine sinkende Tendenz zeigen, im Jahre
1910 immer noch 659 Verurteilte. Das sind immerhin Ziffern, die un-
widerleglich dartun, von welcher Wichtigkeit für die Allgemeinheit, für unser
ganzes Volksleben die Frage ist, ob die staatliche Reaktion auf Verfehlungen
Jugendlicher richtig geordnet ist; und, meine Herren, ich stehe nicht an,
diese Frage dahin zu beantworten, daß sie für das geltende Recht nicht
bejaht werden kann. Die bestehenden Vorschriften zwingen dazu, daß gegen
jeden Jugendlichen, der gegen die Gesetze verstößt, ein Strafverfahren er-
öffnet werden muß, soweit er nämlich die nötige Einsicht besitzt, um das
Strafbare seiner Handlung zu erkennen. Dabei berücksichtigt diese Regelung