Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 13.) 17
Arbeitshaus ist und viel größere Makel auf die Kinder wirft, direkt zu
Verbrechern geworden sind. Das zeugt von der Güte der Jugendlichen.
Aber es ist notwendig, entschieden dagegen aufzutreten, daß etwa die Zwangs-
erziehung als eine Fürsorge-, als eine Erziehungsmaßregel betrachtet werden
darf. Ich habe einmal in einer Erziehungsanstalt die Fürsorgebeschlüsse
in Menge durchlesen müssen; das waren Fürsorgebeschlüsse von einem
Berliner Gericht, das in dem Rufe steht, besonders sozial zu sein. Ich
war geradezu erschrocken, in welch schablonenhafter Weise dort vorgegangen
ist. Es heißt da einfach: der Betreffende hat auf der Straße das und das
pekziert, die nötige Aufsicht fehlt ihm, also wird er der Zwangserziehung
überwiesen. Kein Wort von den sozialen Verhältnissen, von den seelischen
und geistigen Veranlagungen des Kindes! Es ist einfach eine Nummer,
ein Stück Papier, ein Aktenstück, aber kein Mensch. Das muß beseitigt
werden, sowohl auf dem Gebiete des Erziehungswesens wie auf dem Ge-
biete des Strafrechts. Der Mensch, insbesondere aber der Jugendliche, muß
als Person, als Individuum behandelt werden, und nicht lediglich nach
dem Schema F. Sie sehen, meine Herren, daß sich aus der Vorlage in
der Tat eine ganze Menge machen läßt, wenn man die Vormundschafts-
behörden an die Stelle des Strafrichters setzt, und wenn man den übrigen
Bedenken, von denen ich sprach, Rechnung trägt. Ich hoffe, daß es möglich
sein wird, in einer Kommission eine Aenderung des Entwurfs nach diesen
Richtungen hin herbeizuführen, und ich beantrage deshalb, den Entwurf
einer Kommission von 21 Mitgliedern zu überweisen.
Abg. Dr. Pfleger (Z.): Der Entwurf, den uns die verbündeten Re-
gierungen nun vorgelegt haben, stellt sich nach einer doppelten Richtung als
eine bewußte Halbheit dar. Er ist eine Halbheit einmal, soweit er ein
Strafprozeßordnungsgesetz ist. Aus dem großen Reformwerk der Straf-
prozeßordnung wird uns ein einzelner Abschnitt vorgelegt, und die Regierung
begründet dieses Vorgehen damit, daß sie sagt, speziell die Gestaltung des
Verfahrens gegen Jugendliche sei ein außerordentlich dringender, vordring-
licher Punkt. Der Entwurf ist weiterhin eine bewußte Halbheit, soweit er
ein Jugendgesetz ist. Wie bereits betont ist, läßt er das materielle Straf-
recht unberührt, ja, ich möchte noch darauf verweisen, daß er das Straf-
prozeßverfahren insofern teilweise unberührt läßt, als er die Frage nicht
prüft und löst, inwieweit jugendliche Personen noch als Zeugen zur Haupt-
verhandlung mit herangezogen werden können. In dem Punkt vermisse ich
tatsächliche Bestimmungen in dem Entwurf; denn wir alle, die wir mit der
Rechtsanwendung zu tun haben, haben wohl das Empfinden, daß vielfach
die Heranziehung von Personen, die sogar noch jünger als 12 Jahre sind,
auch im Interesse der Jugendlichen noch mehr bedauert werden muß als
die Heranziehung Jugendlicher zur Bestrafung. Erhebliche Bedenken muß
ich geltend machen gegen die Fassung des § 3, wie sie jetzt vorliegt; die
schrankenlose Durchbrechung des sogenannten Legalitäts-
prinzips, wie sie hier aufgestellt ist, meine Herren, das ist eine Kon-
sequenz, die wir unmöglich ziehen können, auch wenn sie nur gegen Jugend-
liche sich richtet.
Abg. Dr. van Calker (NL.): Die Vorlage ist ein Rest aus der Straf-
prozeßordnung, die leider vom Reichstage nicht verabschiedet worden ist.
Der Reichstag und die verbündeten Regierungen haben sich entschlossen,
diese spezielle Materie jetzt in einem speziellen Gesetze zur Regelung zu
bringen. Ich kann nicht leugnen, daß ich das an sich sehr bedaure, daß
ich bedaure, daß wir damit in gewissem Sinne heute und für die nächste
Zeit Verzicht leisten auf eine Regelung der Strafprozeßordnung und der
Gerichtsverfassung im ganzen. Aber die Anschauung ist wohl bei den ver-
Europäischer Geschichtskalender. LIV. 2