Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

300 D# Ventsche Reich und seine einzelnen Glieder. (August 25.) 
läßliche Bedingung für das Blühen und Gedeihen des großen deutschen 
Vaterlandes, das ist es, was die heutige Feier uns vor Augen führen soll. 
In den letzten Jahrhunderten des römischen Kaisertums deutscher Nation 
war der Glanz und die Herrlichkeit dieses alten Reiches immer mehr ver- 
blichen. Die gemeinsamen Institutionen waren verkümmert und erstarrt. 
Staatsgefühl und politischer Sinn, soweit sie überhaupt vorhanden waren, 
wandten sich der Festigung und Vergrößerung der Territorialstaaten zu. 
Was in diesen, namentlich in der Habsburgischen Hausmacht, in dem neuen 
Königtum Preußen, aber auch in anderen deutschen Territorialstaaten geleistet 
wurde, war vielfach bewunderungswürdig und von bleibendem Wert; aber 
diese Entwicklung vollzog sich doch im wesentlichen nicht für, sondern gegen 
das Reich als Ganzes. Die mittleren und kleineren Territorien des Reiches 
sahen mit Mißtrauen auf die Absichten der größeren Nachbarn. Wenn an 
den Rathäusern der Reichsstädte unter dem Bilde des Reichsadlers noch 
der Spruch prangte: „sub umbra alarum tuarum protege nos"“, so war 
der Glaube an den Schutz seiner Fittiche schon längst geschwunden. Als 
nun der Sturm vom Westen losbrach, da versagte nicht nur die ohn- 
mächtige Wehrverfassung des Reiches, auch die beiden deutschen Großmächte, 
Oesterreich und Preußen, vermochten nicht angesichts der drohenden Gefahr 
die geschichtlich gewordene Gegnerschaft zu überwinden und sich zu kräftigem, 
gemeinsamem Handeln gegen den gemeinsamen Feind aufzuraffen. Jedes 
auf sich selbst angewiesen, unterlagen beide vereinzelt dem Feldherrngenie 
des fränkischen Eroberers und mußten die schonungslose Härte des Siegers 
fühlen. Der größte Teil der übrigen Fürsten Deutschlands schloß sich, um 
die Existenz ihrer Staaten aus dem allgemeinen Schiffbruch zu retten, unter 
dem Protektorate des Franzosenkaisers zum Rheinbund zusammen und wurde 
so der französischen Politik dienstbar. Das alte Reich löste sich auf, ruhm- 
los und kaum beklagt. In diesen Zeiten tiefer Erniedrigung Deutschlands 
war es ein Sproß aus dem Kreise der Rheinbundfürsten, der Bayerische 
Kronprinz Ludwig, der das heilige Feuer des Deutschtums in begeisterten 
Herzen pflegte und aus seinem Zorn und seiner Trauer um Deutschlands 
Fall, aus seinen Hoffnungen auf eine bessere nationale Zukunft kein Hehl 
machte. Bekannt sind seine Worte, die im Jahre 1805 die Begehung einer 
Siegesfeier am Hofe der Kaiserin Josephine in Straßburg ihm inmitten 
französischer Umgebung entlockte: „Das sollte mir die teuerste Siegesfeier 
sein, wenn diese Stadt, in welcher ich geboren bin, wieder eine deutsche 
Stadt sein wird.“ Von einem Aufenthalt in dem von den Franzosen be- 
setzten Berlin im Jahre 1807 stammen seine Verse: „Auf ihr Teutschen! 
Auf und sprengt die Ketten, die ein Korse euch hat angelegt!“ Ebendort, 
im gleichen Jahre, hat Kronprinz Ludwig die ersten Schritte getan zu einem 
Ehrentempel deutscher Größe, den er dann später in der Walhalla bei 
Regensburg errichtete und der nach seiner Ansicht vor allem zur Erstarkung 
deutschen Sinnes beitragen sollte. Es konnte nicht fehlen, daß derartige 
Worte und Gesinnungen dem damaligen Zwingherrn Deutschlands zu Ohren 
kamen und von diesem mit Feindseligkeit vergolten wurden, einer Feind- 
seligkeit, die sich bis zu der Drohung verstieg: „Wer hindert mich, diesen 
Prinzen erschießen zu lassen?“ Die Sinnesrichtung des Wittelsbacher 
Thronerben war — so sehr er zeitlebens der Formenschönheit des griechischen 
und römischen Altertums zugetan war — vor allem begründet in echter 
Liebe zum Deutschen Volkstium, in Begeisterung für die Glanzzeiten der 
Deutschen Geschichte und in der Freude an dem reichen Schatze Deutschen 
Gemütes, Deutscher Kunst und Kultur. Voll Empfänglichkeit und Bewun- 
derung für die zeitgenössischen Deutschen Dichterheroen, einen Schiller und 
Goethe, teilte er doch nicht die weltbürgerliche Richtung ihrer Literatur-
	        
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