Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

302 Das Dentsqhe Reic und seine einzelnen Glieder. (August 25.) 
Kongreß und sein Verfassungswerk, der Deutsche Bund, sind viel gescholten 
worden; billige Beurteilung wird aber zugeben müssen, daß eine wirtlich 
befriedigende Lösung der deutschen Frage nach den damaligen tatsächlichen 
Verhältnissen ein Ding der Unmöglichkeit war. 
Verhältnismäßig rasch gelang ein wesentlicher Fortschritt auf wirt- 
schaftlichem Gebiete, und es war König Ludwig dem Ersten, der inzwischen 
seinem Vater in der Regierung des Landes gefolgt war, beschieden, zunächst 
im Jahre 1827 einen bayerisch-württembergischen Zollvertrag herbeizuführen 
und daun im Zollvereinsvertrag vom Jahre 1833 mit Preußen Hessen ent- 
scheidend mit einer wirtschaftlichen Einigung auf breiter Basis mitzuwirken. 
Eine politische Einigung stand noch in weitem Felde; mehrfache Anläufe 
blieben erfolglos. Die Meinungen über das „Wie?“ gingen noch zu un- 
versöhnlich auseinander. Es war noch ein schmerzlicher Bruderkampf not- 
wendig, um zunächst die Frage der Vorherrschaft in Deutschland zwischen 
Oesterreich und Preußen auszutragen, und erst ein neuer Angriff des west- 
lichen Nachbarn und die unter der unvergleichlichen Führung König Wilhelmsl. 
und seiner Paladine erfochtenen glorreichen Siege der vereinigten deutschen 
Wassen führten zum Abschluß der Verträge, durch die aus Nord und Süd 
das neue deutsche Reich, das neue deutsche Kaisertum entstand. Da 
erwies sich der nationale Gedanke, zu dessen Weckung und Erstarkung 
König Ludwig l. so viel beigetragen hatte, als eine Macht, die auch die 
letzten Hindernisse überwinden half. Die große nationalen Aufgaben, vor 
allem nach außen, aber auch im Innern, wurden dem Ganzen übertragen, 
zugleich wurde jedoch bei dem Aupbau der Verfassung die Bedeutung der 
Einzelstaaten und die Erhaltung ihres Wirkungskreises mit weisem Bedacht 
berücksichtigt. Für Bayern war es der Enkel Ludwigs I., der hochgesinnte 
König Ludwig II., der den Anschluß an den neuen Bund vollzog. Der Stifter 
dieser Halle selbst war nur kurze Frist vorher in hohen Jahren zu seinen 
Vätern heimgegangen. Er sollte das Erstehen des neuen Deutschen Kaiser- 
tums nicht mehr erleben, nicht mehr seinen Wunsch erfüllt sehen, daß Straß- 
burg wieder eine Deutsche Stadt wurde. Nicht mehr war es ihm auch ver- 
gönnt, zu erleben, daß das neue Deutsche Reich und die Oesterreichisch-Un- 
garische Monarchie, die Genossen des Freiheitskampfes von 1813/14, wieder 
zu enger Freundschaft und zu einem völkerrechtlichen Bündnis zusammen- 
getreten sind, das seinen Bestand und seine Wirksamkeit durch alle Stürme 
bewährt hat und, wie wir vertrauen, auch in alle Zukunft bewähren wird. 
Groß und mächtig steht das Deutsche Reich im Rate der Völker da, stets 
erprobt als ein Faktor der Mäßigung und des Friedens, stets aber auch 
bereit, für die Ehre und Interessen des Deutschtums einzutreten, wo immer 
sie bedroht würden. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit aller Teile 
des Reichs in Freud und Leid ist immer mehr erstarkt, und wer gleich- 
wohl im Auslande je mit der Uneinigkeit, der Eifersucht der Reichsglieder 
rechnen würde, wie dies wohl früher geschehen, würde diese Rechnung grau- 
sam enttäuscht sehen. So möchte es denn manchem scheinen, daß der Mahn- 
spruch König Ludwigs in dieser Halle für das heutige Geschlecht nicht mehr 
die gleiche ernste Bedeutung hätte wie ehedem. Allein im Leben der Völker 
kann und darf es für eine Nation, die sich behaupten will, kein Ausrasten 
auf errungenen Erfolgen geben. Hier trifft noch mehr wie für den ein- 
zelnen das Wort des Dichters zu: „Nur der verdient sich Freiheit wie 
das Leben, der täglich sie erobern muß.“" In immer erneuten An- 
strengungen gilt es für Deutschland, sich gewappnet zu halten gegen alle 
Gefahren, die seinen Bestand bedrohen können, die Kräfte zu stählen für 
alle Aufgaben, die die Entwicklung der Zeiten uns stellt. Erst die letzten 
Monate haben wieder erwiesen, daß das deutsche Volk in seiner Gesamt-
	        
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