Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Das Dernisqhe Reiqh und seine einzelnen Glieder. (September 14. —20.) 311 
wenn die rote Fahne auf das Königliche Schloß gepflanzt ist. Der preußische 
Staat gibt nicht Reformen auf einen Hieb. Wir müssen ihm erst das Knie 
auf die Brust setzen. Soweit aber sind wir noch nicht. Und deshalb 
dürfen wir uns nicht wegen einer Teilreform in Abenteuer einlassen. (Zu- 
stimmung u. Widerspruch.) Wir dürfen uns nicht Illusionen hingeben über 
das, was wir durchsetzen können. (Sehr richtig! u. Unruhe.) Wir haben 
viel zu viel erbaut und geschaffen, um es aufs Spiel zu setzen. (Unruhe u. 
Beifall.) Lassen wir uns nicht in Situationen bringen, die den Gegnern 
nur erwünscht sein können, und uns in einen Generalstreik hineintreiben, 
der den Gegnern Freude, dem Ganzen aber nur Schaden zufügen würde. 
(Stürmischer Beifall eines großen Teils der Versammlung.) 
Klajus-Berlin: Ich bin weder Theoretiker noch Parteiangestellter, 
sondern komme aus der Werkstatt, und da muß ich sagen, daß es nicht 
richtig ist, daß die Propagierung des Massenstreiks von den Akademikern 
oder Literaten ausgeht. In den Werkstätten und Fabriken meint man, 
unsere Führer hätten sich schon zu sehr den bürgerlichen Idealen genähert 
und bremsten nur noch. (Hört, Hört!) Diese Ansicht teile ich zwar nicht, 
sie ist aber die Meinung vieler Genossen. Die Arbeiter in der Fabrik und 
in der Werkstatt sind zu der Ueberzeugung gelangt, daß es noch ganz 
anderer und besserer Organisierung bedarf, um einmal die Waffe des 
Massenstreiks und vielleicht noch ganz andere Waffen zur Anwendung zu 
bringen. (Große Bewegung, Aharufe u. Hört, hörtI!) Jawohl, das muß 
ich hier ausdrücklich feststellen. 
Rosa Luxemburg: Gen. Scheidemann findet es als dringendste 
Aufgabe, hier auf dem Parteitag einen Kampf gegen die Nörgler und 
Kritiker in den eigenen Reihen, die angeblich die Unzufriedenheit der Massen 
schüren, zu proklamieren und die Gefahren an die Wand zu malen. Die 
Taktik der Partei muß darauf gerichtet werden, Begeisterung und Opfer- 
freudigkeit in den großen Massen und auch außerhalb der Organisierten zu 
erwecken. Aber da kommt Gen. Scheidemann und sagt: Ihr wollt die 
Organisation herunterreißen. (Sehr richtig! u. Unruhe). Was ihr wollt, 
heißt ja Dissziplinlosigkeit. Gen. Scheidemann hat ein paarmal von 
mangelndem Verantwortlichkeitsgefühl und ekrupellosigkeit gesprochen. 
(Sehr richtig! u. Unruhe.) Eine solche Art der Bekämpfung gegnerischer 
Ansichten grenzt stark an Demagogie. (Scheidemann ruft: Das sagt aus- 
erechnet die Genossin Rosa Luxemburg.) Auf dem vorigen Parteitag in 
Fena hat Bebel bezüglich des politischen Massenstreiks von einer Vogel- 
straußpolitik gesprochen und gesagt, jeder Führer, der diesen Namen ver- 
diene, müsse sich fragen, ob es nicht an der Zeit sei, daß die Partei den 
Vorschlag einmal diskutiere. Es wäre eine erbärmliche Partei, die sich 
durch Staatsanwalt und Strafgesetzbuch einschüchtern ließe, ihre Menschen- 
rechte zu verteidigen. (Sehr richtig!) Als Bebel dies sprach, hat man 
natürlich „Sehr richtig!“ gerufen und auch heute rufen Sie wieder „Sehr 
richtig!“, weil Bebel es gesagt hat. Gen. Scheidemann hat seine Resolution 
mit erhobener Stimme empfohlen und betont, daß dahinter die Partei- 
instanzen stehen. Das glaube ich wohl. Aber der Parteitag ist nicht dazu 
da, zu dem Willen und zu den Ansichten der Parteiinstanzen „Hurra“ zu 
rufen, sondern er ist dazu da, daß die Massen lernen, was sie machen sollen. 
Was wir wollen, läßt sich in einem Wort zusammenfassen. Wir antworten 
auf alle Uebergriffe der Reaktion damit, daß wir auf dem Parteitag sagen: 
Wir schärfen unsere Waffen und sind bereit. (Stürm. Beifall.) — Resultat 
der Abstimmung über die Massenstreik-Resolution: Für die Resolution 
Luxemburg haben 142, dagegen 333 gestimmt. Die ablehnende Majorität 
ist also noch größer, als man vorher glaubte. Die Resolution des Partei-
	        
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