346 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glleder. (Oktober 30.)
Abg. Müller (Sd.): In der Presse wurde die Meinung laut, die
sozialdemchatische Fraktion werde aus Courtoisie in keine Erörterung der
Vorlage eintreten. Courtoisie pflegt man gegenüber Damen zu betektigen,
und edle Frauen sind in diesem Hause leider noch nicht vertreten
aber ein Irrtum, wenn man erwartet, daß wir einer Mehrheitspartei und
einer Staatsregierung gegenüber, die der sosialdemokratischen Partei die
staatsbürgerliche Gleichberechtigung verweigern und sie außerhalb des Ge-
setzes stellen wollen, auf eine notwendige Erörterung verzichten könnten.
Die politischen Gegensätze haben sich seit der Wirksamkeit des Parteimini-
steriums Hertling in verhängnisvoller Weise verschärft. Weite Kreise des
Volkes würden es nicht verstehen, wenn wir die Anschauungen, die auch
bei ihnen gültig sind, nicht zum Ausdruck bringen würden. Das Ministerium
Hertling hat durch sein Verhalten gegenüber unserer Partei ein ungeheures
Maß von Erbitterung erzeugt. Unter dem neuen Regime hat auch d
monarchische Empfinden da, wo es bisher bestand, empfindlichen Schaden
nehmen müssen. Unsere Siellung zum monarchischen Gedanken ist klar
und unzweifelhaft, aber jede persönliche Absicht, die gegen den Vertreter
der Monarchie selbst gerichtet sein könnte, liegt uns fern. Der geeignetste
Moment, die . entschaftsfrage zu lösen, ist von der Regierung verpaßt
worden. Jetzt soll auf einmal die Angelegenheit im Eilzugstempo erledigt
werden. Vergebens sucht man in der kläglichen Begründung der Vorlage
nach den Gründen solcher Eile. Diejenigen Körperschaften, die es unter-
nommen haben, eine Bewegung für die Aufhebung der Regentschaft zu
inszenieren, haben mit der wahren Stimme im Volke keine hlung. Das
Volk hat andere Sorgen als die um einen neuen Monarchen. Die wirk-
liche Not, das große Elend, wie es in der Arbeitslosigkeit zum Ausdruck
kommt, wird durch die Losung der Regentschaftsfrage nicht beseitigt. Einen
verdächtigen Einfluß üben unter dem Regime des Ministeriums Hertling
gerade jene feudal-kapitalistischen Kreise aus, die den monarchlichen Ge-
danken ren eigenen Interessen dienstbar zu machen suchen.
Die Abstimmung: Der Gesetzentwurf wurde mit allen Stimmen
gegen die Stimmen der Sozialdemokraten und Demokraten angenommen.
Dann trat das Haus in die zweite Lesung ein, zu der niemand das Wort
ergriff. In der namentlichen Abstimmung wurde die Vorlage mit 122
gegen 27 Stimmen angenommen.
30. Oktober. (Mecklenburg-Strelitz.) Staatsminister Bos-
sart sucht nach den gescheiterten Verhandlungen über die Verfassungs=
frage seine Entlassung nach. (Siehe 3. November.)
30. Oktober. (Baden.)
Bei den Stichwahlen zur Zweiten Kammer gelang es dem Zentrum
nur im Wahlkreise Freiburg-Stadt die Sozialdemokraten zu schlagen. In
den übrigen neunzehn Kreisen drang der Großblock durch, so daß die stark
gesährete Linkenmehrheit gesichert erscheint. Es wurden gewählt 11 National-
iberale, 4 Fortschrittler, 4 Sozialdemokraten und ein Zentrumskandidat.
Der neue Landtag wird sich demnach folgendermaßen gusommen setzen:
20 Nationalliberale (darunter ein Wildliberaler), 5 Fortschrittler, 13 Sozial-
bemokraten, 5 Konservative, 30 Zentrum. Es stehen also den 38 Mitgliedern
des Großblocks 35 Abgeordnete der Rechten gegenüber. Vor der Auf lösung
der Kammer hatten die Nationalliberalen 18, der Fortschritt 7, die Sozial-
demokraten 20; das sind zusammen 45 Mandate, o daß der Großblock mit
einem Verlust von sieben Mandaten abschließt, wobei die Sozialdemokratie
die Hauptleidtragende ist.